22.02.2022. Was für ein Datum. Was für eine Zahl. Wie gemalt, zum 50-igsten Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch, Claudia Pechstein! Verdiente Ovationen an eine Frau, die man hochleben lassen muss.
Olympia in Peking ist Geschichte. Geschichte geschrieben hat Claudia Pechstein, die Königin des Eisschnelllaufs. Natalie Geisenberger hat die Berlinerin in Peking zwar abgelöst. Die Rennrodlerin avancierte mit ihrer 6. Goldmedaille zu Deutschlands Rekord-Winterolympionikin. Historisch. Sicher. Bemerkenswert. Für mich gibt es aber am Ende der Wettkämpfe in Peking nur ein Fazit: Pechi ist Olympiasiegerin der Herzen.
Zum achten (!) Mal nahm sie an Winterspielen teil. Das hat vor ihr noch keine Athletin geschafft. Mit 49 Jahren war sie zudem die älteste Teilnehmerin. Es hätten noch mehr Spiele sein können. Wäre da nicht die Unrechtssperre wegen überhöhter Blutwerte gewesen. Eine vererbte Anomalie. Wie sich herausstellte. Sie ist unschuldig. Bewiesen unschuldig. Wer etwas anderes behauptet, macht sich schuldig. Allein die Diskussion darüber, dass sie bei der Eröffnungsfeier – völlig zurecht – die deutsche Fahne tragen durfte, ist – freundlich formuliert – eine Frechheit.
Sie kämpft um ihre Rehabilitation. Reputation. Wiedergutmachung. Anerkennung. Die ihr genommenen wurde. Immer noch. Der Makel bleibt. Schwebt wie ein dunkler Schatten über ihr. Bei vielen. Durch die Willkür der Gerichte. Oft scheint es, als sei es ein Kampf gegen Windmühlen. Doch sie kanalisiert ihre Wut. Gibt nicht auf. Niemals. Ihr unbändiger Wille ist vorbildlich. Claudia Pechstein tut den Menschen gut. Ich ziehe meinen Hut. Vor so viel Mut. Die Welt braucht mehr solcher Mutausbrüche!
Über 3000 m wurde Claudia Pechstein Letzte. Na und? Sie hatte mit ihrer achten Olympia-Teilnahme die Bestmarke des japanischen Skispringers Noriaki Kasai eingestellt. „Da kann man eigentlich nur mit einem Jubeln über die Linie laufen“, strahlte sie. Ihren ersten Olympia-Start hatte Pechstein 1992 in Albertville, wo sie über 5000 m Bronze holte. In China wurde sie im Massenstart Neunte. Überragend. Die älteste Teilnehmerin im Feld sorgte für das beste Ergebnis für die Frauen der Deutschen Eisschnelllauf- und Shorttrack-Gemeinschaft (DESG). Es ist fast symbolisch für die Zukunft, wenn eine nun 50-Jährige den Jungen davon läuft. Finde ich. Claudia ist sich dessen bewusst, spart auch nicht mit Kritik. Sie will gar nicht mehr die Lokomotive sein. Noch aber holt sie die Kohlen aus dem Feuer. Zwangsläufig. Natürlich stellt sich die entscheidende Frage: Waren die Spiele in China nun das Ende? „Diese Schlagzeile gebe ich euch nicht“, sagte sie. „Ich schließe nichts aus. Mehr will ich dazu nicht sagen“.
Und lachte. Schelmisch. Herzerfrischend. Sympathisch. Tiefenentspannt. Ganz und gar nicht wie eine Diva, vor der ich einst gewarnt wurde. „Pass auf. Die kann zickig sein.“ Mit einem mulmigen Gefühl machte ich mich 2002 auf den Weg ins Sportforum. Vor fast auf den Tag genau 20 Jahren. Dort bereitete sich Claudia auf das inzwischen legendäre Show-Duell gegen TV-Entertainer Stefan Raab im Wellblechpalast vor. Ich hätte es verstanden, wenn sie zickig gewesen wäre. Denn der feine Herr ließ auf sich warten. Lange. Eine Ewigkeit. Ich rief in der Redaktion an: „Das dauert.“ Mein Chef war genervt. Ich war schwer genervt. Nicht so Claudia. Dabei hätte sie allen Grund dazu gehabt. Zumindest ließ sie es sich nicht anmerken. Wir hatten sogar Spaß. Rein in die Kabine. Raus aus der Kabine. Warm halten. Dehnen. In Dauerschleife. Und zwischendurch immer wieder Zeit zum Gespräch. Mit viel trockenem Humor, den die Situation auch erforderte. Nicht Pechi, sondern Raab hatte die Diva gegeben. „So kann man sich täuschen“, dachte ich mir, als ich zurück in die Redaktion fuhr. Man soll sich eben nicht von Vorurteilen leiten lassen. Ich glaube, ich war sogar ein bisschen verliebt.
Fortan sah ich Pechi mit anderen Augen. Litt bei Niederlagen mit. Feierte aber viel mehr ihre grandiosen Erfolge. Ihretwegen brach ich meinen großspurig angekündigten Olympia-Boykott. Schon am ersten Tag. Ja, ich gebe es zu. Ich bin alles andere als charakterstark. Dass ich dieses Vorhaben wirklich in die Tat umsetze, hat mir aber sowieso keiner geglaubt. Ein bisschen war es so wie mit Silvester-Vorsätzen, die 10 Minuten nach Mitternacht vergessen sind. Spätestens.
Wie gesagt, eigentlich wollte ich nichts zu tun haben. Mit den Winterspielen. China. Oder IOC-Boss Thomas Bach. Aber dann wurde mir schnell klar, dass ich den Sportlerinnen und Sportlern nicht gerecht werden würde. Vor allem nicht Claudia Pechstein. Ich habe Muskelkater im Arm, weil ich gar nicht aufhören kann, meinen Hut zu ziehen. Genau zu Beginn der Spiele hatte ich selber Geburtstag, wurde 57 Jahre „alt“, wie meine Patenkinder breit grinsend bemerkten. Ich haderte damit, mit großen Schritten auf die 60 zuzugehen.
Gerade, als ich es mir in meiner Midlife Crises bequem machen wollte, sah ich Claudia und ihren Lauf über 3000 m. Ich fühlte mich plötzlich wie ausgewechselt. Diese Frau holte mich aus meiner Melancholie. Ich stellte das von den Kindern gebackene Bananenbrot beseite und starrte fasziniert auf den Bildschirm. Die Bilder wirkten wie eine Dusche voller Energie. Wie ein frischer Frühlingswind, der alle negativen Gedanken davon wehte.
Schon vor der Abschlussfeier brach Claudia nach Deutschland auf, „damit ich auch pünktlich zu meinem Geburtstag zu Hause bin“. Vielleicht spielt der DJ ja Sacramento von Middle of the Road. Der Song stand am 22. Februar 1972 auf Platz 1 der deutschen Charts. Gibt schlechtere Partysongs. Wie ich finde. Obwohl, Stimmungs-Tipps von mir sind eigentlich unnötig. Dafür sorgt schon die Anwesenheit der Kufen-Queen. Es gibt ja auch genügend Gründe, ausgiebig zu feiern.
Claudia Pechstein hat gezeigt, dass sie allemal mithalten kann. Mit jungen Frauen, die ihre Töchter sein könnten. „Eisschnelllauf ist mein Leben. Sport ist mein Leben.“ So soll es sein, so soll es bleiben. Hoffentlich! Ich mit 50? Allein mein damals beträchtlicher Bauchansatz hätte wohl einen Fehlstart verursacht. Ich würde es mir wünschen, dass sie weitermacht. Dass sie weiterläuft. Läuft. Und läuft. So dem Alter die hässliche Fratze nimmt. Jeden Tag. Mindestens bis 2026 in Mailand/Cortina. Klar, die Medaillen räumen inzwischen andere ab. „Da bin ich Realist.“ Egal. Gold ist für Pechi sowieso zu wenig. Für diese Frau muss ein neues Edelmetall erfunden werden. Für die größte Kämpferin aller Zeiten. Eine Eisblume, die niemals verblüht. Die den Begriff Midlife Crises ad absurdum führt. Geradezu lächerlich macht.
Ob ich immer noch in Claudia Pechstein verliebt bin, fragen Sie? Das verrate ich nur ihr. Sie ist in jedem Fall Vorbild und Jungbrunnen zugleich. Für mich. Für eine ganze Generation. Für alle. Danke dafür. Alles Gute!
Bild: picture alliance / Kyodo
Ronald Toplak, geboren am 5. Februar 1965 in Berlin, ist seit über 30 Jahren im Sportjournalismus für verschiedene Hauptstadt-Medien tätig. 25 davon als Redakteur beim Berliner Kurier. Er schreibt – nach einer gesundheitlichen Auszeit – nun als freier Autor.