Unser Autor besucht seit 53 Jahren Spiele von Hertha BSC. Wieder mal steht die alte Dame am Abgrund. Das Stimmungsbild aus der Sicht eines Berliner Fans vor dem Relegations-Hinspiel am Donnerstag im Olympiastadion gegen den Hamburger SV.
Samstag, 14. Mai, 16.50 Uhr: Ich schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. Hertha BSC führte in Dortmund 1:0 bis zur 65 Minute, war dem Klassenerhalt ganz nahe. Plötzlich Freistoß für den BVB. Handspiel. Elfmeter. Nach Videobeweis. Fragwürdig. Ausgleich als bittere Folge. Ein herber Schock. Mir blieb der Kaffee im Halse stecken.
Bekanntlich verlor Hertha das Spiel noch mit 1:2. Da der 1.FC Köln beim VfB Stuttgart nicht half, in allerletzter Sekunde vergeigte (1:2), geht es für den selbst ernannten Big City Club nun in der Relegation gegen den Hamburger SV. Das Drama zweier Schwergewichte, Gründungsmitglieder der Bundesliga, die beide ins Oberhaus gehören.
Wissen wir doch alles. Was will der gute Mann? Warum ich Ihnen das erzähle? Der Elfer, das Endergebnis im Signal Iduna Park, nervten schon gewaltig. Aber noch viel mehr ein Kindergeburtstag. Ich schaute mit meinem Freund Maxe in der Kickerworld. Ein Freizeitzentrum, an dem einst auch Hertha-Sportchef Fredi Bobic beteiligt war. Strahlender Sonnenschein. Über 20 Grad warm. Open Air. Großleinwand. Dazu die ausgelassene Kinderschar, die auf den angrenzenden Plätzen mit dem runden Leder tobte. Das Spiel interessierte die Kids nur am Rande. Bis eben zum Elfmeter. Alles sammelte sich an der Leinwand. Spannung. Zittern. Riesenjubel. Aber – für Erwin Haaland, der eiskalt verwandelte. Entgeistert schaute ich auf die Kniprse. Hertha? War ihnen egal! Der norwegische Torgigant war ihr Held. Ich schaute genauer hin. Die Jungs trugen Trikots der Bayern, von Gladbach, Dortmund. Ein blau-weißes Leibchen? Hatte keiner an. Wohlgemerkt in Spandau. Eigentlich Hertha-Land, wie ich zu sagen pflege. Das Olympiastadion ist sozusagen unser Vorgarten.
Ich war verärgert. Früher wollte ich mal Grundschullehrer werden. Gut, dass ich mich anders entschieden habe. Diese Gören hätte ich – pädagogisch wertvoll – zum Nachsitzen verdonnert.
Spaß beseite. Ich nippte frustriert an meinem Cappuccino. Dann dachte ich: Warum sollten die Steppkes Hertha auch anfeuern? Die Idole suchen sich die Kleinen woanders. Vollkommen verständlich. Vielleicht in Köpenick, wo sich der Lokalrivale 1. FC Union erneut für den Europapokal qualifizierte. Eine überrragende Leistung. Auf jeden Fall aber bei den üblichen Verdächtigen, den Großen der Branche. Im Westend sind derzeit keine Vorbilder zu finden. Beim besten Willen nicht. Graue Maus? Eine Untertreibung. Kindliche Begeisterung weckt man anders. Das musste ich mir ehrlich eingestehen.
Ich fühlte mich im Biergarten auf Eiswerder ein bisschen wie in den 80igern. In der Oberschule war man damals als Herthaner ein Außenseiter. Belächelt gingen wir zu den Spielen. Tapfer den Hohn ignorierend. Ich kann mich an meine Klassenkameradin Christiane erinnern. Sie zog das Trikot immer erst im Stadion an. Danach wieder aus. Motto: Was, wenn mich jemand sieht? Vielleicht mein Traumtyp? Ich war es nicht. Leider. Ihre blau-weiße Leidenschaft war Chrisi in jedem Fall etwas peinlich.
Vielleicht ist dies auch heute noch so. Ich muss sie unbedingt mal anrufen. Ihrem Ehemann Frank ist Hertha übrigens egal. Sie bräuchte das Trikot heute nicht mehr in einem Rucksack verstecken. Er steht auf Volleyball. Und den FC St. Pauli.
Genug aus der Vergangenheit.
Wenden wir uns der Zukunft zu. Denn es gibt sie doch noch, die „Jetzt-erst-recht-Herthaner“. Auch unter Jugendlichen. Da sind zuallererst meine Patenkinder. Die habe ich zu Hertha-Anhängerinnen erzogen. Ohne Gnade. Nach der Einschulung von Lisa zum Beispiel, ging es gemeinsam mit Nele nach den familiären Verpflichtungen ins Stadion.
Kuschelbär Herthinho zog bei den Mädchen mehr als die üppig gedeckte Kuchentafel mit den Erwachsenen im Garten. Inzwischen gehen sie alleine zu Hertha. Ohne den coolen Onkel. Kompromisslose Hardcore-Fans. Nach der Pleite gegen Mainz meinte Nele ernsthaft zu mir: „Wir haben doch gut gespielt.“ Was habe ich nur getan? Aber das ist echte Liebe zur alten Dame. Bedingungslos. Und ich bin schuld. Gemein.
Oder Sarah. Tochter meines Buddelkasten-Freundes Andreas. „Soll ich Karten besorgen?“, fragte sie. Sarah ist mit Hertha sozialisiert worden. Der Liebe wegen aber hat sie ihr Herz an Union verloren. Doch sie verleugnet ihre blau-weiße Herkunft nicht. „Alles für den Klassenerhalt“, erklärte sie energisch. Ich hatte schon Tickets. Über meinen Kumpel Matze. Ein unerschütterlicher Optimist. Der an Felix Magath glaubt. Auch wenn der seine Rettunsmission an der Spree gegen seinen Herzensklub vollenden muss. Ein Duell mit der Vergangenheit für den Trainer-Dino. Ausgerechnet gegen seinen HSV, den er als Spieler 1983 im Finale des Landesmeister-Pokals gegen Juventus Turin mit seinem fulminanten Siegtor in Athen in Europas Olymp schoss, mit dem er dreimal Deutscher Meister (1979, 1982, 1983) wurde, wo er Günter Netzer als Manager ablöste (1986). Und bei dem er 1995 seine erste Stelle als Chef-Übungsleiter in der Bundesliga antrat. Eine Ikone an der Elbe.
„Na und?“, meinte Matze mit betont lässigem Grinsen. Er bleibt immer locker. Positiv. Die personifizierte Zuversicht. Egal, wie schlecht es Hertha geht. Keine Tribünen-, VIP- oder Pressekarten. Ich werde mit ihm in der Ostkurve stehen. Da, wo man Hertha mit jeder einzelnen Faser des Körpers lebt. Fühlt. Atmet.
Matze musste mich dennoch überzeugen, weil ich gesundheitlich nicht in Höchstform bin. Zudem sehe ich ziemlich schlecht. Ob der schwächelnden Augen wird die Angelegenheit für mich fast zum Hörspiel. Egal. Anfeuern geht. Ich kann jubeln. Schreien. Singen. Für den Schulchor hatte es früher zwar nicht gereicht. Meine – aus meiner Sicht – sonore Stimme klang für andere eben noch nie wie Maiglöckchen. Aber sie ist laut. Stark. Wie Donnerhall. Voller Leidenschaft. Auch im Schulochester blieb ich außen vor, durfte gnadenhalber die Triangel schlagen. Total talentfrei. Musikalisch eine beklagenswerte Nullnummer. Urteilten die Lehrkräfte achselzuckend. Aber die legendär quäkende Stadiontröte – die beherrsche ich seit frühesten Kindheitstagen perfekt. Fast schon virtuos. Mein Vater bereute es jedenfalls sehr schnell, mir das blecherne Ungetüm gekauft zu haben. Das stark zerbeulte Teil habe ich immer noch. Also blase ich, mit eben diesem ohrenbetäubenden Instrument, voller Inbrunst zum Angriff. Attacke!
Gutes Omen: Vor 20 Jahren, am 10. März 2002, schaffte Hertha den höchsten Sieg gegen die Hanseaten in der Bundesliga. 6:0 wurden die Rothosen nach allen Regeln der Kunst abgefertigt. Ein gewisser Bart Goor wurde unsterblich. Mit vier Treffern, einer Vorlage und zwei Pfostentreffern war der Belgier die schillernde Figur, der Goorminator! Ich war als Reporter dabei. Ein echt barter Tag für die Raute.
Ich fordere im Namen des leidgeprüften blau-weißen Anhangs: Macht’s noch einmal! Ehrlich, ich habe keinen Bock mehr auf die 2. Liga. Auf Lachnummer. Ich will vergessen. Die erneute Katastrophen-Saison. Die verlorenen Derbys. Den unsäglichen Kurvenzoff. Die drei vergebenen Matchbälle. Oder den Phantom-Torschuss in Bielefeld. Radiert diese Erinnerungen aus. Am besten mit zwei Siegen gegen den HSV. Alles geben. Fans und Mannschaft. Gemeinsam. Für den Klassenerhalt. Für Berlin. Und dann die Reset-Taste gedrückt. Neustart. In eine bessere Zukunft. Mit Kindern, die hoffentlich bald wieder stolz Hertha-Trikots tragen. Die nicht den Gegner beim Elfer anfeuern. Zeit wird es.
Bild: picture alliance / contrastphoto | O.Behrendt
Ronald Toplak, geboren am 5. Februar 1965 in Berlin, ist seit über 30 Jahren im Sportjournalismus für verschiedene Hauptstadt-Medien tätig. 25 davon als Redakteur beim Berliner Kurier. Er schreibt – nach einer gesundheitlichen Auszeit – nun als freier Autor.