Unser Autor Ronald Toplak ist begeistert von der Atmosphäre bei den European Championships in München. Und träumt von Olympia in Deutschland.
Was war das am Dienstag für ein magischer Leichtathletik-Abend. Wer hätte damit gerechnet? Ich jedenfalls nicht. MIT! DIESER! UNGLAUBLICHEN! SHOW! Einem Publikum, ach was, einem Meer der Freude. Ja, auch die Zuschauer im altehrwürdigen Münchner Olympiastadion haben 50 Jahre nach den Sommerspielen in der Metropole Gold verdient. Sie tragen alle Sportler, vor allem das zuletzt viel geschmähte deutsche Team, zu Höchstleistungen. Ein Sommermärchen. Fast ein Wunder. Atemberaubend. Nach der desaströsen WM in Eugene im Juli (USA), als sich die DLV-Athleten in der sportlichen Hölle befanden, im Medaillenspiegel kurz vor Andorra einreihten.
Plötzlich stiegen sie wie Phönix aus der Asche auf, mutierten zu Himmelstürmern. Mit faszinierenden Aufholjagden. Gina Lückenkemper bei ihrer sensationellen Goldmedaille über 100 m und der unglaubliche Niklas Kaul im Zehnkampf seien stellvertretend genannt. Mehr spektakulär? Ging nicht! Positive Reizüberflutung im Minutentakt.
„Oh, wie ist das schön!“, donnerte es von den voll besetzten Rängen. Nach jetzt schon legendären Auftritten für die Ewigkeit. Die Helden staunten ungläubig. Rieben sich die Augen. Kniffen sich. „Das habe ich noch nicht erlebt. Mir sind fast die Ohren weggeflogen“, war Kaul fassungslos vor Glück. Und Lückenkemper stammelte: „Schon bei der Vorstellung zum Rennen habe ich mich gefühlt, wie ein kleiner Rockstar. Alle wollten mich sehen. Das Stadion war der absolute Wahnsinn. In diesem Hexenkessel wollte ich unbedingt eine geile Performance bieten. Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich viel aus solchen Emotionen ziehe. Das hat mich unfassbar motiviert.“ Die neue Europameisterin, die zuvor sprichwörtlich ins Ziel gestürzt war und sich dabei am Bein verletzte, saß, während sie behandelt wurde, strahlend auf einem Stuhl und dirigierte das Orchester. Danach ging es ins Krankenhaus: „Ich bin noch nie Krankenwagen gefahren. Super-spannend, was da so passiert ist, ich war auch noch nie in der Notaufnahme“, erzählte sie, plauderte locker über nächtliche Mitfahrer. „Ich hatte im Krankenwagen auch die Begleitung der Dopingkontrolle dabei. Nachdem wir fertig genäht hatten, konnte ich die Dopingkontrolle auch fertig machen.“
Gänsehaut! In! Endlosschleife! Gegen die Stimmung in der bayrischen Landeshauptstadt klingt der Triumphmarsch von Aida wie Trauermusik.
Jetzt muss man dafür sorgen, dass die überraschenden Erfolge keine Eintagsfliege bleiben, nicht verpuffen. Wie so oft. „Ich habe erst gedacht, ich kann es ja doch noch. Wir haben gezeigt, dass die deutsche Leichtathletik nicht tot ist“, sagte Kaul fast trotzig.
Nutzt die Euphorie. Verdammt nochmal. Mit den verpassten Chancen der letzten Jahrzehnte könnte man kein Buch, sondern ganze Bände füllen. Alles gehört auf den Prüfstand. Nachwuchszentren. Förderung. Struktur. Es wird Zeit. Denn zuletzt waren die DSV-Stars zwar immer mittendrin, aber nur noch selten dabei, wenn es um die Medaillen ging. „The Show must go on“, ist das Motto. Um einen Rock- Klassiker von Queen zu zitieren. Wobei vor allem die oft selbstherrlichen Funktionäre gefragt sind, die auf teilweise massive Kritik der Sportler beratungsresistent reagieren.
Zurück zur wunderbaren Atmosphäre in München. Ich habe schon viel erlebt. Privat und als Reporter. Angefangen als kleiner Junge mit dem Weltrekord von Rosemarie Ackermann im Hochsprung beim ISTAF im Berliner Olympiastadion 1977. Oder, viel später, als Berichterstatter den Fabelweltrekord von Usain Bolt über 100 m bei der WM 2009 an gleicher Stätte. Immer war die Stimmung in meiner Heimatstadt großartig.
Aber die Unterstützung in München ist, das muss ich neidlos zugegeben, einzigartig. In der gesamten Metropole. An allen Wettkampfstätten. Nicht nur im zumeist proppevollen Olympiastadion, sondern auch beim Rad, Rudern, Kanu, Klettern, Turnen, Tischtennis, Beachvolleyball, Marathon, Gehen. Alles bebt. Alles lebt.
Jubeln. Umarmen. Feiern. Mit allen Nationen. Begeisterung. Freude. Unverfälscht. Ehrlich. Von ganzem Herzen. Die Menschen sehnen sich nach solchen Momenten im Elend unserer Zeit, nach Ablenkung in düsteren Tagen. Hoffnung. Mut. Zuversicht. Statt Krieg. Corona. Klimawandel.
Zu Gast bei Freunden, fröhlicher Fahnen-Patriotismus. Na und? Jung. Sympathisch. Modern. Die Noten im Ausland für die Freundlichkeit und die gute Stimmung dürften ziemlich gut ausfallen. Ein ganzer Haufen überkommener Deutschlandklischees wird an der Isar geradezu pulversiert. Keine Kampagne hätte besser ausgedacht werden können. Das war und ist Werbung für den Sport im Allgemeinen, für ein ganzes Land. Die Menschen übermalen das zuletzt wieder latent vorherrschende Bild des hässlichen Deutschen mit einem strahlenden Lächeln. Bei Sonnenschein genießen viele Münchener 50 Jahre nach Olympia ‘72 die Wettkämpfe und das Rahmenprogramm. Bleibt zu hoffen, dass es nicht nur Wasserfarben waren, die bald verwaschen. Denn die Multi-EM könnten Vorbild für eine zeitgemäßere Olympia-Variante sein. In Deutschland? Trotz der per Volksentscheid abgelehnten Bewerbungen von München (Winter) und Hamburg (Sommer)?
Ich sage: Warum nicht! Wenn das Event dem Bewusstsein der Bevölkerung angepasst wird, Kosten minimiert, vorhandene Ressourcen und Infrastruktur genutzt werden.
Ich war bitter enttäuscht, als nicht Berlin, sondern Sydney 2000 den Zuschlag bekam. Trug die gelbe Mütze und T-Shirts mit dem Aufdruck „Berlin 2000“ aus voller Überzeugung. Was kann es für einen Sportjournalisten Größeres geben, als Olympia in seiner Geburtsstadt? Nichts! Mal abgesehen von einem Champions-League-Finale mit Beteiligung von Hertha BSC.
Ich hatte dafür gekämpft. Mit Leidenschaft. Unzähligen Interviews. Geschichten. Der Olympiastützpunkt in Hohenschönhausen wurde praktisch mein Wohnzimmer. Vergeblich. Eine immer noch offene Wunde.
Das Herz der Stadt München schlägt im Olympiapark, so kräftig und freudig, wie es vorher wohl niemand geglaubt hätte. Das Multi-Event hat gezeigt, wie es geht. Anders. Ohne ausufernden Gigantismus. Menschenrechtsverletzungen. Umweltschäden. Mit Nachhaltigkeit. Mitreißender Freude. Voll besetzten Rängen. Das ist eine Riesenchance, um das negative Bild in der Öffentlichkeit zu ändern. „München ist ein Paradebeispiel“, schwärmt Berlins Kanu-Olympiasieger Ronald Rauhe. Stimmt. Die Leute haben Bock! Daran glaube ich fest. So werde ich nicht aufhören, davon zu träumen, noch während meines irdischen Daseins Olympia in Deutschland zu erleben. Von mir aus als ganz alter Mann. Aber mittendrin. Statt nur dabei. Oh, wie wär das schön.
Bild: picture alliance/dpa | Sven Hoppe
Ronald Toplak, geboren am 5. Februar 1965 in Berlin, ist seit über 30 Jahren im Sportjournalismus für verschiedene Hauptstadt-Medien tätig. 25 davon als Redakteur beim Berliner Kurier. Er schreibt – nach einer gesundheitlichen Auszeit – nun als freier Autor.