Brasiliens Fußball-Legende Pelé ist im Alter von 82 Jahren gestorben. Die ganze Sportwelt trauert. Auch unser Autor Ronald Toplak.
Ich werde alt. Dies erkennt man daran, dass auf meiner Timeline inzwischen Nachrufe wie am Fließband erscheinen. Am Donnerstag ist Edson Arantes do Nascimento mit 82 Jahren verstorben, den die ganze Welt nur unter dem Namen Pelé kannte. Der Krebs, dieses fiese Drecksschwein, stoppte ihn. Damit war zu rechnen, wenn man die Nachrichten der vergangenen Wochen verfolgte. Eigentlich hoffte ich, dass er auch ihn schwindelig spielt. Vergeblich. In seinem Heimatland Brasilien wird er als Gott verehrt. Jedes Kind kennt seinen Namen. Auch im Rest der Welt war er für viele der Allergrößte. Vor allem in der Generation unserer Väter und Opas. Ihre Augen glänzten, wenn sie vom virtuosen Fußball-Genie erzählten. Er war das Maß aller Dinge. Ein Alleskönner, der seinen Sport wie kaum ein anderer prägte.
Keiner konnte mit ihm auch nur im Ansatz mithalten. Alfredo Di Stéfano, Bobby Moore, Eusebio, Franz Beckenbauer, Johan Cruyff – alles Heilige ihrer Zunft. Gegen ihn wirkten aber auch die Superstars seiner Zeit wie biedere Freizeitkicker. Als es jüngst nach der umstrittenen Winter-WM in Katar um die Frage ging, ob Lionel Messi als Kapitän des neuen Weltmeisters Argentinien nun der beste Fußballer aller Zeiten ist, riefen vor allem die Älteren mit Inbrunst: Nein! Pelé! Der ohnehin müßige Vergleich kam nie ohne die Legende aus. Wird es auch in Zukunft nicht tun.
Der Weltverband Fifa hatte Pelé – ebenso wie den Argentinier Diego Maradona – zum „Spieler des 20. Jahrhunderts“ gekürt. Mit 77 Treffern in 92 Länderspielen ist er bis heute Rekordtorschütze der Seleção, mit der er 1958, 1962 und 1970 die Weltmeisterschaft gewann.
Ich hätte diesen Nachruf, als es Pelé zuletzt immer schlechter ging, vorschreiben können. Sozusagen auf Halde, wie man im Fachjargon sagt. Aber ich sträubte mich. Etwas wehrte sich in mir. Als ob ich ihm den letzten Atemzug rauben würde, wenn ich schon zu seinen Lebzeiten die finale Würdigung formuliere. Nun muss ich mich der Realität stellen. Vielleicht war der Tod ja am Ende aufgrund der schweren Krankheit eine Erlösung.
Jetzt zaubert er in der Himmelsauswahl. Als Stellvertreter Gottes. Denn wenn der Allmächtige Fußball spielen könnte, dann würde er spielen wie Pelé. Wahrscheinlich holt sich sogar der Schöpfer ein Autogramm. Von einem Mann, der immer positiv wirkte, ein strahlendes Lachen im Gesicht hatte. Sein Lächeln war das Lächeln des Fußballs.
„Der Fußball hat heute den Größten seiner Geschichte verloren – und ich einen einzigartigen Freund“, teilte Beckenbauer stellvertretend für Millionen in einer Stellungnahme mit. Am Ende richtete sich der Kaiser, der mit Pelé einst bei Cosmos New York spielte, in bewegenden Worten direkt an ihn: „Der Fußball wird auf ewig Dir gehören! Du wirst immer bleiben. Danke für Dein Spiel, O Rei!“ Besser kann man es nicht formulieren.
Pelés großer Wunsch war es, dass Brasilien einmal zu Hause Weltmeister werde. Doch dann musste er wie seine Landsleute mit dem 1:7 gegen Deutschland im Halbfinale 2014 eine der bittersten Stunden miterleben. „Nur Gott kann das erklären“, war die Ikone ob der historischen Schmach fassungslos. Mit 17 wurde Pelé erstmals Weltmeister – und begründete das Märchen der Seleção. 1958 in Schweden. Wo übrigens neben ihm ein gewisser Uwe Seeler zum internationalen Top-Star avancierte. Auch die allseits verehrte deutsche Legende verstarb in diesem Jahr. Ja, der Fußball trägt 2022 schwarz.
Mein Smartphone glühte. Viele Freunde und Bekannte wollten kurz nach der Todesnachricht ihre Trauer mitteilen. „Ich habe das Glück gehabt, ihn noch spielen zu sehen“, schrieb zum Beispiel einer. Da kann ich leider nicht wirklich mithalten. Bei der WM 1970 war ich noch zu klein, meine Erinnerung an das Turnier besteht nur aus Fragmenten. Die Titelkämpfe vier Jahre später in Deutschland nahm ich dann erstmals bewusst wahr. Brasilien war zwar dabei. Pelé leider nicht mehr. Seinem Mythos bin ich dennoch erlegen.
Mein Vater schenkte mir damals ein Buch über die WM 1974. Ich habe es als kleiner Junge verschlungen. Immer und immer wieder. So oft, dass es sich fast selbst auflöste. Ich habe es immer noch, müsste es allerdings neu binden lassen. Inzwischen fällt es auseinander, werden die losen Seiten nur notdürftig noch durch den Einband zusammen gehalten. Dieses Nachschlagewerk bildete den Grundstock für mein fußballerisches Allgemeinwissen. Das recht umfangreich ist. Wie ich ohne Eigenlob sagen kann. Für viele meiner Kumpels bin ich ein wandelndes Lexikon, das im Zweifel angerufen wird. Und – nebenbei – den Herren so manche Wette gewonnen hat. Das Buch behandelte nämlich nicht nur das Heim-Turnier. Im Anhang wurden auch alle Turniere der Vergangenheit beschrieben. Ich saugte alles auf wie ein Schwamm. Ein Kapitel hatte die Überschrift: Pelé, Didi, Garrincha. Es behandelte die drei wohl besten Spieler, die Brasilien jemals hatte. „Bruder“ und „Lehrmeister“ nannte Pelé seinen kongenialen Partner Valdir Pereira. Künstlername: Didi. Von Dribbelgigant Garrincha sagte er selbst: „Er war der Beste!“
Es gab einen Moment, da teilte sich der Fußball in zwei Zeitebenen: Vor und nach Pelé. Ich habe natürlich später alle wichtigen Spiele von ihm gesehen. Das Finale von 1970 gleich mehrmals. Seine Kunst machte mich sprachlos. Im Aztekenstadion von Mexiko-Stadt wirbelte die Seleçao den Catenaccio der Italiener, der zuvor im Jahrhundertspiel die DFB-Elf besiegte, beim 4:1 förmlich aus den Schuhen. Pelé erzielte das 1:0 per Kopf, lieferte die Vorlage zum Endstand, ein Tor nach minutenlangem Ballbesitz der Wundermannschaft. Das Bild des jubelnden Helden in den Armen Jairzinhos ist legendär.
Pelé tanzte Samba mit dem Ball. Übernatürlich. Schwerelos. Atemberaubend. Fußball wie ein Gedicht. Poetisch. Traumhaft. Magisch. Ich werde mein Buch vorsichtig aus dem Regal nehmen. Eintauchen in eine Zeit, da der Fußball noch unschuldig war. Einfach ein schönes Spiel.
Alle Tricks, die Ronaldo, Michel Platini, Ronaldinho, Zinedine Zidane, Kylian Mbappé, Lionel Messi oder Cristiano Ronaldo später versuchten, hatte er schon in den 1950er, 60er und 70er Jahren gezeigt. In Perfektion. Einzigartig! Genial! Spektakulär!
Er war der Gott. Unter den Göttern. Hob den Fußball auf eine neue Stufe. Drei WM-Titel als Spieler sind bis heute unerreicht, werden es wohl auch bleiben. Künftige Generationen werden sich immer an ihm messen lassen müssen. Denn Pelé ist unsterblich. Vier Buchstaben. Ein Vermächtnis. Ein König. Für die Ewigkeit.
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Ronald Toplak, geboren am 5. Februar 1965 in Berlin, ist seit über 30 Jahren im Sportjournalismus für verschiedene Hauptstadt-Medien tätig. 25 davon als Redakteur beim Berliner Kurier. Er schreibt – nach einer gesundheitlichen Auszeit – nun als freier Autor.