Reporter Ronald Toplak wurde Hertha BSC in die Wiege gelegt. Er hat einiges erlebt. Diesmal war es ein Abstieg mit Ansage, langem Anlauf. Aber: Vereins-Treue kennt keine Liga. Und: Duelle gegen Magdeburg, Braunschweig, Rostock, Nürnberg, Karlsruhe, Kaiserslautern sind Tradition pur. Hat was! Volle Hütte garantiert! Wetten? Eine Zeitreise durch über 50 Jahre Hertha-Geschichte. Liebe ohne Leiden? Geht nicht. Im Westend.
Abstieg mit Hertha BSC? Kann ich. Will ich zwar nicht. Aber ich habe inzwischen Routine in Sachen Leiden. Besser gesagt eine über Jahrzehnte antrainierte Leidensfähigkeit. Emotional abgestumpft. Ich bin kurz vor: Ach, was soll’s! Mich kann nichts mehr schocken. Ich kann innerhalb von Sekunden in den „Scheiß-drauf-Modus“ schalten. Trotz! Gehört praktisch zum Selbsterhaltungstrieb eines blau-weißen Anhängers. Schon mein Vater hat regelmäßig Pausen eingelegt. „Hertha-Sperre“ nannte er das. Ich dagegen konnte und kann nicht loslassen. Woran mein alter Herr die Hauptschuld trägt, nahm er mich doch 1969 erstmals mit ins Olympiastadion. Seitdem bin ich befallen. Vom Virus. Ein Gegenmittel? Gibt es nicht. „Unheilbar krank“, würden Spötter sagen. „Ewige Liebe“, ist meine Antwort. Gebetsmühlenartig. In guten wie in schlechten Tagen. Obwohl letztere zuletzt zugegeben überwogen. Ich könnte mein Saisonfazit der letzten vier Spielzeiten per „Copy-and-paste-Taste“ nur leicht modifiziert übernehmen.
Das ist bedenklich. Frustrierend. Mehr als ernüchternd. Nichts hat sich geändert. NICHTS! Nur die Köpfe der Führungsetage.
Himmelhochjauchzend. Zu Tode betrübt. Hertha ist ein Verein der Extreme. Zuschauer-Rekorde, magische Europacup-Nächte und Spitzenspiele im altehrwürdigen Olympiastadion folgen im stetigen Wechsel mit sportlichen Peinlichkeiten, Inkompetenz, Affären oder finanziellen Nöten. Das ist im Prinzip so, seitdem ich ein kleiner Junge war. 1971, der schwerste Bestechungs-Skandal der Geschichte. Ich war 6. 18 Spiele waren in der Endphase der Saison gekauft worden. Über 50 Profis aus zehn Vereinen waren beteiligt. Natürlich auch Akteure von Hertha. Der Verein am Abgrund. Der Ruf auf ewig beschädigt. Zur Entschuldung musste das Stadion, die kultige Plumpe am Gesundbrunnen, verhökert werden. Ein Trauma. Mein Vater litt sein Leben lang darunter.
Aus dem Sumpf wurde aber plötzlich eine Erfolgsstory. Alles schön. Vizemeister 1974/75 unter dem legendären Georg Keßler. Der bis dato größte Erfolg in der Eliteklasse. 1980, der erste Abstieg meiner Fan-Ägide. Im entscheidenden Spiel gegen Stuttgart war ich zum ersten Mal alleine im Stadion. Ohne Papa! Hertha gewann mit 4:2. Vergeblich! Die Hoffnung starb im wahrsten Sinne zuletzt. Damals gab es noch keinen Relegationsplatz, stattdessen die engste Entscheidung in einem Bundesliga-Abstiegskampf, da der MSV Duisburg, Bayer 05 Uerdingen und eben Hertha auf den Tabellenrängen 14 bis 16 bei allesamt 29:39 Punkten lediglich durch eine Tordifferenz von sechs Toren in der Abschlusstabelle getrennt waren. So bitter. So gnadenlos. So frustrierend. Ich lag eine Woche krank und apathisch im Bett. Ehrlich. So fühlt sich nur Liebeskummer an.
Es folgten 17 Jahre totaler Tristesse, nahezu hoffnungsloser Bedeutungslosigkeit. Mal abgesehen von den Amateuren. Die Bubis erreichen 1993 das Pokalfinale, was sich dieser Tage zum 30 Mal jährt. 0:1 verloren. Sensation gegen den haushohen Favoriten Bayer Leverkusen hauchdünn verpasst. Aber die Herzen gewonnen. Die Jungs waren so herrlich unverdorben. Toll. Einfach toll. Für mich die schönste Zeit als Reporter. Die Truppe hatte die Hauptstadt in ihren Bann gezogen. „Berlin schaut einer rosaroten Zukunft entgegen“, diktierte mir der damalige 04-Manager Reiner Calmund in den Block. Denkste! Chance kläglich vertan. Es war nur ein lichter Moment im Dunkel. Wieder mal.
Sogar Blau-Weiß 90 lief Hertha zwischenzeitlich den Rang ab, spielte 1986/87 in der deutschen Beletage. Mit dem späteren Weltmeister Kalle Riedle. Die alte Dame war da schon bis in die Oberliga Berlin abgestürzt. Die Mariendorfer traten gegen die Bayern, Dortmund, Gladbach oder den Hamburger SV im Olympiastadion an. Hertha dagegen etwa beim Spandauer BC am Ziegelhof. Was für eine Demütigung. Mehr Tiefpunkt? Ging nicht! Topstar der alten Damen war damals übrigens ein gewisser Peter Loontiens. Na? Erinnert sich noch jemand?
Es dauerte eine Ewigkeit, eine ganze Generation, bis zur Renaissance, dem umjubelten Wiederaufstieg in die Bundesliga 1997 (das Kurz-Gastspiel 1990/91 habe ich verdrängt). Nur eine Saison zuvor stand Hertha vor dem Absturz in Liga 3. Nur weil Michael Preetz, damals noch im Trikot von Wattenscheid 09, am Tor vorbei schoss, hielt Hertha die Klasse. Unglaublich. Eine Hundertprozentige. Ich war live dabei, 1996 im Lohrheidestadion. Ja, auch wir können Wunder. Dachte ich! Sarkasmus ist ein probates Hilfsmittel, den Dauerstress zu verarbeiten.
Das Glück, das Hertha damals im beschaulichen Bochumer Randbezirk hatte, fehlte gestern vor über 70 000 Fans im annähernd ausverkauften Olympiastadion gegen den Wattenscheider Stadtivalen VfL. Erst in der vierten Minute der Nachspielzeit wurde der Abstieg besiegelt. 1:1. Durch Keven Schlotterbeck. Ausgerechnet ein Ex-Unioner sorgte für kollektive Schockstarre. Noch Sekunden zuvor hatte ich nach den besten Zugverbindungen nach Wolfsburg gesucht, um beim Finale am letzten Spieltag dabei zu sein.
„Trotzdem noch ein schönes Wochenende“, sagte Bedienung Anja sanft zirzend, als ich meine Kaffeetasse abgab. Ihr Lächeln war zwar bezaubernd. Konnte mich aber nicht wirklich aufmuntern. Ein Spaziergang über die Insel Eiswerder half, den Kopf wieder freizubekommen. „Hertha als wir ist keiner!“, brüllte ich mit Inbrunst von der Brücke über das Wasser Richtung Zitadelle. So laut, dass ich fast eine Sturmflut auf der Havel auslöste. Ein Paar mit Kinderwagen zuckte ängstlich zusammen. „Alles gut. Musste raus“, beruhigte ich verkrampft freundlich. Und schaute in irritierte Augen. Ich ging weiter meiner Wege. Befreit. Mit wieder tiefenentspannter Miene. Ich konnte ja schließlich nicht der gesamten Spandauer Neustadt das Fürchten lehren.
Mund abwischen. Weiter geht’s! Das kennen wir Hertha-Fans! Der dritte Abstieg im neuen Jahrtausend, der siebte insgesamt. Zwei Mal gelang zuletzt die direkte Rückkehr. Diesmal allerdings ist es mehr als ein Betriebsunfall. Hinter der Zukunft steht ein dickes Fragezeichen. Es könnte deutlich länger dauern. Bis zum Comeback im Oberhaus. Allein schon wegen der dilettantisch geleerten Kassen. Der HSV lässt grüßen. Wer weiß, vielleicht geht es ja sogar noch tiefer. Wenn Hertha keine Lizenz bekommt. Alles falsch gemacht. Wo man nur konnte! Das nervt gewaltig. So viel offensichtliches Unvermögen macht mich wütend. Fassungslos! Untergang zum Selbermachen, Herha gibt eine nahezu perfekte Anleitung. So geht Selbstzerstörung. Pleiten. Pech. Und Pannen. Das ist die DNA im Westend.
Ganz schlimm für mich als Fan sind jetzt aber vor allem auch besserwissende Experten. Dampfplauder*innen, die sich ohne einen Tropfen blau-weißes Blut in den Adern auf allen medialen Kanälen anmaßen, den Frust des schwer gebeutelten Anhangs zu analysieren. Ernsthaft? Schlaumeier*innen, die mir erklären wollen, wie wir Herthaner ticken, diesen Klub aber nicht fühlen, atmen, leben. Die deshalb dazu überhaupt keine Berechtigung haben. Weil sie nicht im Ansatz in die Seele eines Fans schauen können, der die alte Dame seit Jahrzehnten begleitet.
Solche Klugschwätzer*innen regen mich mehr auf, als das desaströse Gekicke, die Konfusion in der Führungsetage und das daraus resultierende Finanz-Chaos. Hey, Leute, für alle zum mitschreiben: Wir wissen selbst, was Sache ist. Wer wir sind! Wie wir sind. Was wir sind. Nämlich die besten Fans der Liga! Wir kriegen seit Jahrzehnten voll auf die Fresse. Backpfeifen-Challenge der Konkurrenz in Endlosschleife. Wir sind der Punchingball der Fußball-Nation. Na und? Wenn wir am Boden liegen, stehen wir wieder auf. Schmerzresistent. Gnadenlos. Bedingungslos. Immer. Und immer wieder. Unermüdlich! Wie ein Duracell-Hase. Nur, um UNSER Team zu unterstützen. Egal!!! In welcher Liga. Alles klar? 53 640 Fans im Schnitt! Neuer Rekord. Nach DIESER Saison. Trotz des ganzen Horrors. Noch Fragen? Ihr Nörgler? Spötter? Polemiker? Wohl kaum. Das ist einfach FAN-tastisch. „Hertha BSC, wird es immer sein!“ Für die Ostkurve sind diese Worte keine leere Hülle. Die treuesten der Treuen füllen jeden einzelnen Buchstaben mit Leben. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Also, ihr Quasselstrippen, wenn man keine Ahnung hat, einfach mal die Klappe halten.
Leidenschaft, die Leiden schafft. 1980 kam der Abstieg mit dem Vorschlaghammer. Stand doch Hertha 1979 noch im Halbfinale des Uefa-Pokals gegen Roter Stern Belgrad, scheiterte nur aufgrund der inzwischen abgeschafften Auswärtstorregel.
Diesmal allerdings gab es einen quälend laaaaangen Anlauf in Liga 2. Folter, powered by BCC, also known as Big City Club. Nach der größten Alimentierung der Liga-Geschichte entstand eine toxische Mischung aus Größenwahn. Träumereien. Geldvernichtung. Drama. Hausgemacht. Die Kohle, über 370 Millionen Euro, wurde versenkt, verbrannt, verprasst. „In den letzten Jahren waren wir schlampig“, nahm Trainer Pal Dardai kein Blatt vor den Mund. Der Schaden ist immens. Nein, diese Formulierung ist angesichts der katastrophalen Lage in (fast) allen Bereichen eine schamlose Untertreibung. Existenzbedrohend. Skandalös. Schockierend. Diese Schlagworte passen eher.
Dit is Balin! In schöna Regelmäßigkeit. Kennen wa! Jehört zu uns Herthanern, wie Butta uff die Stulle. Mein Patenkind Nele jedenfalls, im Aufstiegsjahr 1997 geboren und von mir schon in der Wiege zur Herthanerin sozialisiert, erklärte sofort nach dem Schlusspfiff: „Alles sehr doof. Aber mein Herz bleibt blau-weiß. Die werden sich noch alle umgucken. Wir sind bald wieder da. So schnell werden die uns nicht los.“ Hut ab vor der Kleinen, die ja in ihrem jungen Leben auch schon einiges mitgemacht hat. Lisa, meine andere Patentochter, erzieht inzwischen den eigenen Nachwuchs in blau-weißer Prägung. So! Sind! Wir! Herthaner*innen! Leidensfähig. Treu. Mit Nehmerqualitäten. Auch im Elend. Das müssen uns keine Möchtegern-Kapazitäten mit viel Pathos geschwängert vor der Kamera erzählen. Austauschbare Hochglanzgesichter, die die Ostkurve nur als Geräuschkulisse kennen. Auf Betroffenheits-Tembre dieser Spezies können wir Fans gut verzichten.
Bleibt mir als Fazit noch zu sagen: „Heute ist nicht aller Tage. Wir kommen wieder. Keine Frage!“ In diesem Sinne: Ha! Ho! He! Ich freue mich sogar ein bisschen auf Liga 2: St.Pauli, Karlsruhe, Kaiserslautern, Magdeburg, Braunschweig, Nürnberg, Rostock – Tradition pur! Hat auch was! Besser als Hoffenheim oder Leipzig! Oder? Volle Hütte garantiert! Wetten? Schon am Sonntag donnerte es im Frankenstadion von den Rängen: „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!“
Der „Berliner Weg“ soll die mittel- bis langfristige Planung auf sportlicher Ebene sein. Hertha will wieder mehr auf eigene Talente setzen und die renommierte Akademie in den Mittelpunkt rücken. Alternativlos. Logisch. Ohne Moos nix los. „Wir wollen 30 Prozent der Kaderkosten reduzieren“, erklärt Geschäftsführer Thomas Herrich. Hertha, eine Turbobaustelle. Es bleibt wenig Zeit. Schon in acht Wochen startet die Zweitliga-Realität.
Foto: picture alliance / firo Sportphoto | Max Ellerbrake
Ronald Toplak, geboren am 5. Februar 1965 in Berlin, ist seit über 30 Jahren im Sportjournalismus für verschiedene Hauptstadt-Medien tätig. 25 davon als Redakteur beim Berliner Kurier. Er schreibt – nach einer gesundheitlichen Auszeit – nun als freier Autor.