Deutschland hat ein Problem mit dem Leistungssport. Ein aufregt diskutiertes Thema nach eher durchwachsen Bilanzen der vergangenen Jahre. Historisch schlecht! So lautete zuletzt immer wieder das bittere Fazit nach Großereignissen. Ist der Nachwuchs zu träge? Ist der Handydaumen der trainierteste Muskel? Lieber Smartphone als Medaillen? Oder wird er durch ein verkrustetes System ausgebremst? Sind die jungen Athletinnen und Athleten wirklich oft nicht mehr konkurrenzfähig? Oder sind das Stammtischparolen? Eine Analyse vor den Finals 2023 Rhein-Ruhr, dem Multievent des deutschen Spitzensports.
Verwöhnt, arbeitsscheu und empfindlich. So das gängige Vorurteil über die Generation Z. Quälen? Ist nicht mehr. Hauptsache, die Work-Life-Balance stimmt. Auch der deutsche Sport hat ein massives Nachwuchs-Problem. Weltklasse? Immer seltener! Eine übertriebene Ansicht? Stammtischparole? Panikmache? Ein Stück Wahrheit ist schon dran. Wenn man Großereignisse der vergangenen zehn Jahre verfolgt. Aber dann kommen die Handball-Bubis, um alle Klischees über den Haufen zu ballern. Weltmeister! Wahnsinn! Ein Sommermärchen.
Die deutsche U21- Nationalmannschaft zeigte bei der WM alles, was das Pendant im Fußball bei der EM mit einem kläglichen Aus in der Vorrunde und der damit verpassten Olympia-Qualifikation vermissen ließ: Willen, Kampf, Leidenschaft, Zusammenhalt! Ein verschworener Haufen, der die Nation begeisterte. 8235 Fans sahen den furiosen 30:23-Finalsieg gegen Ungarn in Berlin. Die Max-Schmeling-Halle wurde zum Tollhaus. Millionen jubelten am TV. Was zeigt, wie sehr die Nation nach Erfolgen und jungen Hoffnungsträgern dürstet. Giert. Fiebert. Acht Spiele, acht Siege. Mehr geht nicht. Die Generation Z, plötzlich Generation G! Gold! Es geht doch! Bob Hanning, Chef der Füchse Berlin, platzte fast vor Stolz: „Besser hätte es nicht laufen können. Das war so wichtig für unseren Sport. Wir müssen jetzt das neue Zeitalter einläuten. Das ist unsere neue Generation. Für sie müssen wir alles tun.“ Aus einer homogenen Truppe ragten drei Helden heraus. Torwart David Späth (Mannheim). Mini-Hexer? Von wegen. Der 21-Jährige ist ein Goliath. 42 Prozent Fangquote allein im Finale. Deutschlands neuer Lieblings-Späthi! Hanning: „Er hat in einer anderen Liga gespielt!“ Justus Fischer (Hannover-Burgdorf), der Kreisläufer mit Schuhgröße 51. Und der Berliner Nils Lichtlein als genialer Dreh- und Angelpunkt. Die Zukunft ist rosig: „Viele haben schon in der Bundesliga Fuß gefasst. Das war in der Vergangenheit nicht immer so“, sagt Bundestrainer Martin Heuberger. Und ergänzt: „Was mich beeindruckt, ist die Mentalität der Mannschaft.“ Eine Eigenschaft, die vielen Talenten anderer Sportarten abgesprochen wird. Satt. Träge. Selbstgerecht. Ein vernichtendes Urteil. Deutschland ist Blechmeister. Überspitzt formuliert. Sicher haben Sie auch schon gelästert. Über ein schnelles Ende im Vorlauf. Ein verpasstes Finale, das teilweise als Erfolg verkauft wird. Was bleibt den Experten aber auch übrig?
Was läuft falsch, im deutschen Sport? Leichtathletik, Schwimmen. Um nur zwei Baustellen zu nennen. Sinkflug im Medaillenspiegel. Beispiel Eisschnelllauf. Claudia Pechstein gehört trotz ihrer mittlerweile 51 Jahre national noch immer zu den besten Athletinnen. Ich ziehe meinen Hut! Aber dieser Zustand ist, das weiß die Kufen-Königin selbst, suboptimal.
Theoretisch müsste Deutschland mit seinen gut 84 Millionen Einwohnern bei der Talentsuche allerbeste Voraussetzungen haben. Aber bei den Olympischen Sommerspielen in Tokio schnitt die deutsche Mannschaft historisch schlecht ab. Seit der Wiedervereinigung gab es nie weniger Edelmetall. Kein Versehen, sondern ein Trend. 1990 war das Sportforum Hohenschönhausen als junger Reporter mein Wohnzimmer. Die Welt- und Olympiasieger, die am heutigen Olympiastützpunkt trainierten, konnten einen Medaillenspiegel im Alleingang entscheiden. Leichtathletik, Turnen, Judo, Volleyball, Handball, Schwimmen (mit der legendären Gegenstromanlage), Eisschnell- oder Eiskunstlauf. Superlative und Superstars. In jeder Halle. Auf jeden Platz. Hinter jedem Grashalm. Selbst die Gewichtheber im Friesenstadion um die Ecke waren Weltklasse. Das Erbe des DDR-Sportsystems ist aufgebraucht. Mitunter fragwürdig. Sicher. Aber es gibt viele, die immer noch davon schwärmen. Und mit Sicherheit war nicht alles schlecht.
Zu wenig Geld, verkrustete Strukturen, kein Konzept: Die Ursachenforschung für das schwache Abschneiden ist vielschichtig. Den Vorwurf der mangelnden Leistungsbereitschaft lassen die Athletinnen und Athleten sportartübergeifend aber nicht gelten – sie verweisen auf Fehler im System. Vereine, Landes- und Dachverbände, Amateur- und Profiligen sind gefordert. „Der Erfolg der U21 resultiert aus der Zusammenarbeit aller“, resümiert Hanning. Sich dabei voll bewusst, dass auch im Handball längst nicht alles glatt lief, beziehungsweise läuft. Hanning: „Wir müssen ganz schnell den nächsten Schritt denken. Nur so wächst Erfolg. Umbruch. Jetzt. Lasst uns mutig sein!“
Fakt ist, dass viele Jugendliche und junge Erwachsene sich mit anderen Themen beschäftigen. Sie sind auf Facebook, Instagram, Twitch, Tiktok, beim E-Sport und diversen anderen digitalen Formen des modernen Zeitvertreibs unterwegs.
Jugend konsumiert anders. Wie man den Nachwuchs lockt, zeigt der US-Sport mit Entertainment und aggressivem Marketing. American Football erlebt in Deutschland auch durch massive TV-Präsenz seit Jahren einen Boom. Die NFL bespielt das Interesse von Fans und Medien perfekt inszeniert wie Helene Fischer ihre Bühne. Die umsatzstärkste Sportliga der Welt weiß, wie man ein Produkt verkauft. Und sie weiß auch, dass es für dieses Produkt noch neue Märkte gibt. Das Gastspiel zwischen den Tampa Bay Buccaneers und den Seattle Seahawks in München war ein Spektakel der Superlative, das sogar die Verantwortlichen des FC Bayern wie kleine Kinder staunen ließ. Disneyland und ganz viel Show. Sieht so das Sportevent der Zukunft aus? In jedem Fall verfängt es bei Jugendlichen, ist der Zulauf in deutschen Vereinen riesig.
Es fällt angesichts solcher Omnipräsenz schwer, Argumente für die junge Generation zu finden, ihre Freizeit etwa mit Leichtathletik, Bogenschießen, Boxen, Turnen, Rudern oder Rhythmischer Sportgymnastik zu verbringen.
Der Anreiz, sich früh und vollständig dem Leistungssport zu verschreiben, ist gering.
In Randsportarten kann man kaum oder gar nicht seinen Lebensunterhalt verdienen, wenn man sich nicht als Staatsamateur bei Bundeswehr und -polizei oder beim Zoll verpflichtet. Auch für den sozialen Aufstieg ist Sport in einer Wohlstands-Gesellschaft kaum zu vermitteln. Im Gegenteil, denn es wird eher noch drauf gezahlt.
Also, welche Anreize können geschaffen werden? Aus meiner Sicht muss das Fördersystem grundlegend geändert werden. Damit bin ich kein einsamer Rufer in der Wüste. Nicht umsonst fordert der DOSB mehr Geld, um im Wettstreit mit aufstrebenden Nationen konkurrenzfähig zu bleiben. Die Skandinavier, Großbritannien, Frankreich, Schweiz, sogar die kleinen Niederlande machen es vor.
Damit wir uns nicht falsch verstehen, es gibt massenhaft Vorbilder in Randsportarten. Sie turnen, rudern, rennen, laufen, gehen kämpfen, werfen, schlagen, fechten, schwimmen. Sie bringen immense Opfer.
Das bekomme ich zum Beispiel bei meinem Freund Armin zu spüren. „Ich bin mit Lena beim Hockey“, höre ich in Endlosschleife. Seine Tochter ist inzwischen 18 Jahre jung, jagt seit frühester Kindheit mit dem Schläger dem Ball nach. Mit Idealismus. Extrem ambitioniert. In Auswahlmannschaften. Dafür wird ein für Normalsterbliche unfassbarer Aufwand betrieben. Von der ganzen Familie. Zeitlich und finanziell. Training, Spiele, Turniere. Da wird das Auto schon mal zum Wohnzimmer. Wochenende? Freizeit? Party? Gibt es nur marginal. Nicht einfach, für eine gerade so der Pubertät entwachsene Teenagerin.
Sponsoren sind in Randsportarten nur schwer zu finden. Und sei es nur ein Kleinbus, der die Kinder zu den zu den Spielen bringt. Wie ein weiterer Freund von mir beklagt. Auch seine Tochter spielt Hockey. Dominik hilft als Torwart-Trainer der A-Jugend aus. Als Autodidakt. Er spielte früher Fußball. „Hockey ist Fußball mit dem Schläger“, lacht er leicht gequält. Zeigt aber das sportübergreifende Problem, geeignete Übungsleiter finden. Dennoch: Menschen wie Dominik sorgen für das Überleben vieler kleiner Vereine.
Ohne Ehrenamt ist alles nichts. Förderung gibt es erst in der Spitze, für den Weg dahin sind die Familien selbst verantwortlich. Basta! Armin kann sich das Hobby seiner Kinder leisten. Dominik auch. Bei nicht so gut situierten Familien bleibt das Talent der Sprösslinge häufig im Portemonnaie stecken. Die Gründe gilt es zu beheben. Spitzensport in Deutschland muss gezielter subventioniert werden, um das sicher vorhandene Potenzial zu nutzen.
Wer bei Olympia oder Weltmeisterschaften ganz vorne landen will, braucht professionelle Bedingungen, qualifizierte Übungsleiter, eine funktionierende Infrastruktur. Vor allem aber motivierte Kinder und Jugendliche, die sich auf ihren Sport konzentrieren können. Fernab von materiellen Sorgen und Zukunftsängsten.
Wichtig: Deutschlands Sport muss sauber sein. Unangemeldete Tests sind an der Tagesordnung. Und das ist gut so. Aber gleichzeitig sollen eben diese sauberen Sportlerinnen und Sportler viele Medaillen gewinnen und sich gegen Konkurrenz behaupten, in deren Ländern das Doping-Kontrollsystem mehr als fragwürdig ist. Ein gewaltiges, bis heute ungelöstes Problem, das international nur wenig einzudämmen ist. Für viele ist Leistungssport daher dauerhaft zu einem unglaubwürdigen Gruselkabinett geworden. Hier müssen die Kontrollnetze noch enger geknüpft werden. Keine perfide konstruierte Schönfärberei der Lage ist gefragt, sondern ehrliches, konsequentes Handeln. Anspruch und Wirklichkeit klaffen aber leider derzeit noch so weit auseinander wie beim Sumo-Ringer, der sich zum Marathon-Lauf anmeldet.
Wie gut die deutschen Stars sind, kann von den Fans aktuell vom 6. bis 9. Juli beobachtet werden. Da steigt die große Leistungsschau bei den Finals 2023 Rhein-Ruhr. Für gut 3000 Athletinnen und Athleten werden 159 Meistertitel in 18 Sportarten vergeben. DOSB-Boss Thomas Weikert sieht das Multievent als Chance, den Nachwuchs auch für kleinere Sportarten zu begeistern. „Sichtbarkeit ist für die faszinierende Vielfalt in den Sportarten unserer Verbände überlebenswichtig“, weiß der Funktionär. Die Bandbreite ist riesig. Die Zuschauer können in der Leichtathletik, im Schwimmen, im Geräteturnen oder im Tischtennis dabei sein. Aber auch beim Breakdance, BMX, 3×3-Basketball oder Stand-Up-Paddling. Weikert: „Kinder und Jugendliche müssen Rennkanuten oder Stabhochspringerinnen bei ihrem Sport live verfolgen können, damit sie sehen können und im besten Fall nachmachen wollen.“ Die Wettbewerbe finden in Düsseldorf, Duisburg, Kassel und Berlin statt, viele Veranstaltungen sind kostenlos. Zudem übertragen ARD und ZDF umfangreich.
Über sportliche Erfolge freut sich das ganze Land. Wer ganz vorne landen will, muss fachkundig betreut werden. Das kostet Geld. Sehr viel Geld. Das von den Verantwortlichen sinnvoll investiert werden muss. Weil Sport in Deutschland ein wichtiger Teil der Gesellschaft ist. Immer noch. Vereinsleben vermittelt soziale, kulturelle und gemeinschaftliche Werte. Hier werden die Talente entwickelt. Um diese zu finden, muss es eine flächendeckende Sichtung geben. „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr. Man muss sich also um das Hänschen kümmern“, erklärt der ehemalige Leichtathletik-Dozent Norbert Stein. Klare Lösungen müssen her. Schnell. Das fängt schon beim aus vielerlei Gründen vernachlässigten Schulsport an. Alle müssen anpacken. Netzwerk optimieren. Gemeinsam!
Wo soll der Sport, vor allem der Spitzensport hingehen? Diese Diskussion ist notwendig. Unbedingt. Oder braucht Deutschland keine Stars? Helden? Gewinner? Ich sage es laut: Doch! Auf! Jeden! Fall!
Sie fragen, warum einer Gesellschaft der Spitzensport etwas wert sein sollte? Eben für berauschenden Tage im Stadion, in den Hallen, an den Strecken oder auf der Couch vor dem Fernseher! Wie beispielsweise die deutschen Eishockey-Cracks kürzlich als sensationeller Vizeweltmeister bewiesen haben. Von Kiel bis Friedrichshafen, sie zogen alle in ihren Bann. Der Sport als Unterhaltungsgewerbe. Ablenkung vom Alltag. Als Maschinenraum der guten Laune. Erfolge der schwarz-rot-goldenen Sportphalanx machen die Menschen stolz. Natürlich jubelt die Nation, wenn etwa Schwimmer Florian Wellbrock oder Weitspringerin Malaika Mihambo ganz oben auf dem Treppchen stehen. Die European Championships im vergangenen Jahr in München zeigten eindrucksvoll, wie Enthusiasmus entfacht werden kann. Gute Leistungen der Athletinnen und Athleten haben einen positiven Effekt auf die Gesellschaft. Begeisterung und Wertschätzung für Spitzensport sind vorhanden! Davon bin ich fest überzeugt. Gemeinschaftsgefühl kann eine positive Eigendynamik entwickeln. Notwendig in einer Welt, die aus den Fugen zu geraten scheint.
Fazit: Nicht die Generation Z ist das Problem des Leistungssports, sondern ein nicht mehr zeitgemäßes System. „Eine Stärkung der Basis ist dabei essenziell für eine erfolgreichere Zukunft. Das ist entscheidend. Denn nur dann, wenn es eine breite Basis gibt, kann daraus eine breite Spitze erwachsen“, bringt es Mihambo auf den Punkt.
Wobei wir wieder bei den grandiosen Handball-Jünglingen wären. Mentalitäts-Monster, die als Blaupause dienen sollten. Nils Lichtlein, Justus Fischer, Torwart-Magier David Späth. Drei Beispiele einer Truppe, die Euphorie entfachte. Natürlich. Ehrlich. Bodenständig. Authentizität sorgt für Identifikation. Drei Vorbilder. Drei Helden. Drei Hoffnungsträger. Lehrbeispiele für gute Nachwuchsarbeit. Sie beweisen es im wahrsten Sinne des Wortes: Generation Gold? Es ist nie zu Späth!
Foto: picture alliance/dpa | Sascha Klahn
Ronald Toplak, geboren am 5. Februar 1965 in Berlin, ist seit über 30 Jahren im Sportjournalismus für verschiedene Hauptstadt-Medien tätig. 25 davon als Redakteur beim Berliner Kurier. Er schreibt – nach einer gesundheitlichen Auszeit – nun als freier Autor.