„Deutscher Meister wird nur der FCU!“ Dazu ein Bild von Leonardo Bonucci. Diese Nachricht schickte mir meine Freundin Sarah. Sie ist leidenschaftliche Anhängerin des 1. FC Union. Etwas provozierend. Sie weiß natürlich, dass ich Herthaner bin. Aber ehrlich begeistert. Es ist wirklich wahr. Die Italien-Legende wechselt zu den Eisernen. Der ehemalige Kapitän der Squadra Azzurra. Der Europameister. Die charismatische Heldenstatue von Juventus Turin kickt künftig in Köpenick. Ein Sensations-Transfer.
Allein der Name sorgt für Gänsehaut. Er war das Gesicht von Juventus Turin. Eine Ikone. Acht seiner neun Meistertitel und vier Pokalsiege feierte er mit der alten Dame. Mit Ausnahme einer Saison beim AC Mailand hat der Routinier seit 2010 insgesamt 502 Pflichtspiele für die Turiner bestritten. Viele meiner italienischen Freunde haben ob der Verpflichtung Tränen in den Augen. Eine Persönlichkeit, die man im deutschen Fußball in diesen Zeiten vergeblich suchen würde. „Ein Mann wie er wäre im Römischen Reich Kaiser geworden“, erklärt Massimo, der seit 40 Jahren in Deutschland ein Restaurant betreibt. Er hat Juve mit der Muttermilch aufgesogen, lebt, fühlt, atmet den Klub. „Leo hier zu sehen, ist ein Geschenk.“ Einen Cäsar aus dem Land des viemaligen Weltmeisters. Den Heldenverehrung in Reinkultur umgibt. An jeder Ecke gibt es in der Metropole am Rande der Alpen Wandbilder, Graffiti, Liebesbekundungen.
Die Verantwortlichen indes kratzten heftig am Mythos. Cristiano Giuntoli sortierte das Idol aus. Trotz gültigen Vertrags bis 2024. Er drohte mit juristischen Schritten, wollte nicht gehen, seine ruhmreiche Karriere unbedingt im Piemont beenden. Doch derJuve-Sportdirektor kannte keine Gnade. Eine Traumehe lag in Trümmern. Kein schönes Ende. Geht man so mit einem verdienten Spieler um? Mit Sicherheit nicht in Köpenick. Die Eisernen erkannten die große Chance. Bereits im Januar hatte das Überraschungsteam mit Isco einen großen Namen am Haken, ehe der Transfer kurz vor knapp scheiterte. Diesmal ging mit Bonucci alles glatt, der erstmals ins Ausland wechselt. Hammer! Kann man einfach mal so machen, Union!
Abgehalftert? Nur noch eine Mumie früherer Erfolge? Senioren-Teller statt Gala-Diner? „Quatsch“, wischt Sarah, die von ihrem Mann Chris mit dem eisernen Virus infiziert wurde, alle Zweifel weg. „Oliver Ruhnert weiß, was er tut. Zudem haben schon genügend andere Spieler in seinem Alter gezeigt, dass sie noch Top-Leistungen bringen können. Es ist einfach grandios, ihn bei uns spielen zu sehen.“ Fakt ist inzwischen, dass die Fallhöhe zwischen Union und einem Weltklub wie Juve nicht mehr groß ist.
Atemlos verfolgt Sarah die Entwicklung ihres Herzens-Klubs. Wahrlich, die Schlosserjungs vom Rande der Hauptstadt sind die geilste Geschichte im europäischen Fußball. Sarah reibt sich immer wieder die Augen, schüttelt ungläubig den Kopf, kneift sich. Ist das alles wirklich wahr?
Ich griff zum Hörer. Nicht, dass ich eine Sprachnachricht bekomme. Ich habe es bisher noch nicht geschafft, den jungen Leuten in meinem Umfeld diese für mich komplett unlogische Form der Nachrichten-Übermittlung abzugewöhnen. Ehrlich, das ist eine Sisyphusaufgabe. Andere Geschichte.
„Was passiert da gerade bei uns?“, fragte sie im Retro-Gespräch. „Ein Spieler wie er? In Köpenick? Ich kann das alles gar nicht begreifen. Das ist surreal, eine regelrechte Reizüberflutung!“ Zugegeben, auch ich, ein mit allen Wassern gewaschener Reporter, zucke zusammen, wenn Union einen Knaller nach dem anderen präsentiert. Mit einer Selbstverständlichkeit, die sprachlos macht. Mich, der einst beim DFB den Koffer mit den Lizenzunterlagen bewachte. Sicher schaue ich etwas neidisch an die Wuhle. Union ist nämlich alles das, was Hertha immer sein wollte. Nur ohne ein Investitions-Volumen von 375 Millionen Euro. Robin Gosens, Kevin Volland, Lucas Tousart, Leonardo Bonucci. Was! Für! Namen! „Ich gebe es zu, als Underdog gehen wir inzwischen nicht mehr durch“, sagt Sarah. „Das ist eine richtige Top-Mannschaft, die sich auch in der kommenden Saison fast schon für den Europapokal qualifizieren muss.“
Manchmal denke ich darüber nach, von Oliver Ruhnert meine Lottozahlen tippen zu lassen. Was dieser Manager anfasst, wird nämlich zu Gold. Plötzlich meldet sich Andreas, der Papa von Sarah. Wir mussten noch letzte Details zum Zweitliga-Spiel in Magdeburg klären. Wie ich ist er bekennender Herthaner. „Habe gerade mit deiner Tochter gesprochen. Die kann ihr Glück gar nicht fassen!“ Ich konnte sein Stirnrunzeln förmlich spüren. „Ja“, sagte er, „die machen an der Alten Försterei alles richtig. Mich würde es überhaupt nicht wundern, wenn Union mit dieser Mannschaft um die Meisterschaft mitspielen würde.“ Sehe ich ähnlich. Dass der fast schon hysterische Union-Hype einiger Leute nervt, kann ich zwar nachvollziehen. Es kann einem gewaltig auf den Zeiger gehen, wenn ständig mit einem überromantisierten Kult-Klischee kokettiert wird.
Dennoch, der kometenhafte Erfolg ist einzig und allein die logische Konsequenz einer klugen und effizienten Aufbauarbeit, zudem extrem kluger Transferpolitik.
Damit nicht genug. In der Champions League geht das Märchen weiter. Real Madrid. Natürlich. Wer sonst? Die Königlichen wurden den Eisernen in der Gruppenphase zugelost. Alles ganz real. Mehr Glanz geht nicht. Dazu noch der SSC Neapel, der einen Hauch von Maradona über die Hauptstadt wehen lassen wird. Plötzlich habe ich Anfragen ohne Ende. Ob ich nicht jemanden kenne, der jemanden kennt, der jemanden kennen könnte. Keine Chance. Natürlich hat Sarah Karten für die Spiele in der Königsklasse im Olympiastadion. „Die Tickets würde ich niemals weggeben.“
Von Fortuna geküsst. Über der Wuhlheide wird derzeit ein üppiges Füllhorn des Glücks ausgeschüttet. So viel Freude ist fast schon unverschämt? Nein! Es ist der Lohn harter Arbeit. „Neid ist unbedingte Anerkennung.“ Rufe ich allen missgünstigen Dauer-Nörglern zu. Ich ziehe mit Respekt meinen Hut. Als ein vom Schicksal gebeutelter Herthaner. Man muss auch gönnen können. Fazit von meinem eisernen Kumpel Helmut: „Es ist nur einen Wimpernschlag her, dass Union aufgestiegen ist. Allein das war eine Sensation. Gefühlt haben wir gerade noch gegen Aue, Sandhausen, Aalen oder Erfurt gespielt. Und jetzt Real? Das ist ein Wunder. Ich gehe seit 1963 zu Union. Damals hießen wir noch TSC. Manchmal denke ich, dass ich wach werde, dann alles nur ein Traum war.“ Ist es nicht, Helmut. Du kannst ihn leben, deinen Traum. In Wirklichkeit. Helmut schluckt: „Das ist alles viel zu schön, um wahr zu sein!“ Eben der ganz Reale Wahnsinn!
Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Fabio Ferrari
Ronald Toplak, geboren am 5. Februar 1965 in Berlin, ist seit über 30 Jahren im Sportjournalismus für verschiedene Hauptstadt-Medien tätig. 25 davon als Redakteur beim Berliner Kurier. Er schreibt – nach einer gesundheitlichen Auszeit – nun als freier Autor.