Am 24. August 1963 rollte erstmals in der Fußball-Bundesliga der Ball. 60 Jahre später startete am vergangenen Wochenende die höchste deutsche Spielklasse in ihre 61. Saison. Inzwischen ein Milliarden-Geschäft. Immer noch ein Spektakel. Eine Erfolgs-Geschichte, an der aber leider immer weniger Traditionsvereine mitschreiben.
Ich bin ein Kind dieser Liga. Mein erstes Live-Erlebnis war zugleich historisch. Am 26. September 1969, ich war vier Jahre alt, besuchte ich mit meinem Vater die Partie zwischen Hertha BSC und dem 1.FC Köln. 88.075 Fans waren im Olympiastadion. Offiziell. Rekord. Inoffiziell sollen es sogar 120.000 Zuschauer gewesen sein. Mehr Begeisterung geht nicht. Ein paar Bilder der übervollen Arena habe ich noch im Kopf. Wir saßen im Oberring. Nicht weit von der heutigen Ostkurve entfernt. Mein alter Herr erzählte mir später, dass ich nach dem Aufwärmprogramm der Spieler gehen wollte. Ich dachte, das war’s. War es natürlich nicht. Hertha gewann 1:0. „Die Aufgangsstufen und sogar die Marathontreppen waren voll besetzt. Keine Stecknadel hätte mehr reingepasst“, erzählte mein Vater auch Jahrzehnte später noch tief beeindruckt. Er ließ mich nicht von der Hand. Immer in der Sorge, dass ich in der brodelnden Masse verloren gehe. Die Zuschauer-Bestmarke nimmt der Hertha keiner mehr, kein Bundesliga-Stadion hat heute die entsprechende Kapazität. So fanden Papa und ich als kleiner Mosaikstein Eintrag im Geschichtsbuch der Liga. Darauf bin ich schon ein bisschen stolz.
Zurück zum 24. August 1963. Was ist geblieben vom Gründungs-Mythos? Die Anstoßzeit schon mal nicht. Damals ertönte der Anpfiff um 17 Uhr. Von den Teams der ersten Stunde auch nicht mehr viel. Köln ist als erster Meister noch dabei. Ebenso Borussia Dortmund, Eintracht Frankfurt, der VfB Stuttgart und Werder Bremen. Rekord-Champion Bayern München stieg erst 1965 auf. Der einstige Dino Hamburger SV (stieg 2018 erstmals ab), Hertha, Schalke 04, der 1.FC Kaiserslautern, Eintracht Braunschweig, der Karlsruher SC und der 1.FC Nürnberg kicken inzwischen in Liga 2. Der TSV 1860 München, MSV Duisburg, 1.FC Saarbrücken und Preußen Münster darben sogar in der Drittklassigkeit. Die Tradition ist abgestürzt. Es war fast surreal, als die Sportschau, so etwas wie die filmische Bibel der Beletage, am Samstag mit dem Drittliga-Duell zwischen 1860 München gegen Duisburg startete, Hertha gegen den HSV am Abend in Liga 2 antrat.
Und der Osten des Landes? Retorte Leipzig, das in einen mit österreichischem Zaubertrank gefüllten Kessel gefallen ist, lasse ich mal außen vor. Einzig der 1.FC Union Berlin begeistert. Alle! Der einstige Haupstadt-Underdog ließ Platzhirsch Hertha seit dem Aufstieg 2019 mit Siebenmeilenstiefeln hinter sich, mutierte gefühlt während eines Wimpernschlags zu einem Spitzteam der Liga, spielt künftig in der Champions League. Was für ein Märchen. Hollywood lässt grüßen. Nicht nur auf der Brust der Eisernen. Inzwischen wechseln etablierte Nationalspieler wie Robin Gosens und Kevin Volland wie selbstverständlich an die Alte Försterei. Viele reiben sich verwundert die Augen. Der Erfolg ist aber kein Zufall, sondern das konsequente Ergebnis bodenständiger Arbeit, cleverer Einkaufspolitik, ruhiger Vereinsführung und leidenschaftlicher Fans.
Hansa Rostock, Dynamo Dresden, der VfB Leipzig und Energie Cottbus gastierten in Liga 1, waren aber nicht sehr viel mehr als One-Hit-Wonder.
Der 1.FC Magdeburg und Hansa spielen derzeit immerhin in Liga 2, Dresden (Zuschauerschnitt: 24.565!), Erzgebirge Aue und der Hallesche FC in Liga 3. Der Rest dümpelt noch weiter unten herum. Rekordmeister BFC Dynamo etwa trat am Samstag in Eilenburg an. In der viertklassigen Regionalliga Nordost. Einem Tummelplatz einstiger Größen. Beinahe die halbe ehemalige DDR-Oberliga, das Pendant zur Bundesliga, ist inzwischen dort gelandet. Neben dem BFC zum Beispiel Cottbus, Carl-Zeiss Jena, der FC Rot-Weiß Erfurt, FSV Zwickau, Chemnitzer FC und die beiden Leipziger Vereine Lok und Chemie. Klangvollen Namen, tolle Zuschauerzahlen, legendäre Standorte. Sie fristen im erweiterten Profifußball ein Dasein, das weder ihrem Fanreservoir noch ihrer bewegten Geschichte gerecht wird. Warum ich das erzähle?
Angesichts solcher Klubs blutet mir als Fußball-Romantiker das Herz, wenn ich auf die aktuellen Sportgemeinschaften der Elitestaffel schaue. Zum Beispiel der 1.FC Heidenheim, der als 57. Mitglied im Kreis der Besten begrüßt wurde. Manch einer spricht mit Argwohn von Verzwergung. Zehn aktuelle Teams waren nie Meister (Ost und West). In Liga 2 sind nur fünf Teams ohne Titel. Bei den Landeshauptstädten steht es 7:5 für das Unterhaus. Kurzum – der Glanz der Tradition kickt nicht zwingend in Liga 1. Die Absteiger Schalke (61.133) und Hertha (53.670) lagen mit ihrem Zuschauerschnitt in der vergangenen Saison auf den Plätzen 3 und 4 des Oberhauses. In die Stadien der Aufsteiger aus Heidenheim und Darmstadt passen gerade mal 32.650 Besucher. Zusammengerechnet! Natürlich halten die Kleinen den verschwundenen Marken den Spiegel vor, zeigen, wie Nachteile durch gute Personalentscheidungen und schlanke Strukturen ausgeglichen werden können. Man würde Darmstadt und Heidenheim wahrscheinlich auch als sympathische Farbtupfer begrüßen. Wenn es davon nicht schon so viele geben würde.
Hoffenheim, Freiburg, Mainz und Augsburg haben sich etabliert, dazu kommen die von vielen immer noch kritisch beäugten Werksklubs Aspirin Leverkusen, Motor Wolfsburg und Blechdose Leipzig. Vereine, in denen sicherlich gute Arbeit geleistet wird, deren Fanbasis aber auf alle Zeiten überschaubar bleiben wird. Strahlkraft ist anders. Internationale Reichweite wohl auch. Aber: Es ist nun mal ein Wettbewerb. Und wenn die so genannten Schwergewichte, Zugpferde und Fan-Magneten zu blöd dafür sind, manche gar trotz millionenschwerer Investitionen, mischen halt die Kleinen im Oberhaus mit. Völlig zurecht. „Die Fußballfans können wieder schimpfen, dass jetzt Klein-Darmstadt kommt. Dafür habe ich null Verständnis. Wir haben es uns verdient. Wir machen hier ehrliche Arbeit“, meint Lilien-Boss Rüdiger Fritsch. Sieht Heidenheims Trainer Frank Schmidt genauso: „Kein Glamour-Faktor, schlecht für die Internationalisierung – wir sind aufgestiegen und haben uns das sportlich verdient.“ Punkt! Dem kann man nicht widersprechen. Müssen die Meckerköppe halt besser spielen. „Wer damit ein Problem hat, muss das mit sich selbst ausmachen.“ Das tue ich. Nichts für ungut, es prickelt bei mir mehr, wenn Schalke gegen Düsseldorf, Braunschweig gegen Magdeburg, der HSV gegen St. Pauli oder Hertha gegen Kaiserslautern im Unterhaus antritt, als mir Heidenheim-Hoffenheim, Darmstadt-Augsburg oder Wolfsburg-Mainz anzusehen.
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich gönne allen die Bundesliga, wünsche Spaß und Erfolg. Anschauen muss ich mir deren Spiele aber nicht. Vielleicht mal die Bayern. Aber nur wegen Neuzugang Harry Kane. Der England-Kapitän ist übrigens 100 Mal teurer als Roger van Gool (Köln), 1976 der erste Millionen-Happen in der Feinschmecker-Abteilung des nationalen Fußballs.
60 Jahre Bundesliga. Ich lade gerade meinen Akku neu auf. In der 2., 3., sogar in der 4. Liga, den Sammelbecken vieler meiner Heldenklubs mit aufwühlender Historie, wo der Fußball kulturell tief verwurzelt ist. Dort jubele ich lieber statt bei Vereinen mit einer Aufmerksamkeitsspanne, die selten knapp über die Stadtgrenzen hinausreicht.
Für viele Kultvereine sind die goldenen Zeiten vorbei. Sicher. Dennoch bleiben die leidgeprüften Anhänger ihrer krisengeplagten Liebe treu, die mehr ist als nur das Spiel an sich. Deshalb sind diese Klubs auch nie kaputtzukriegen. Im Positiven wie im Negativen – durch zu viel oder zu wenig Geld. Tradition heißt Seele. Die ist nicht käuflich. Echte Fans machen die Reise mit – egal wohin. Sie stellen sich jeden Tag der aktuellen Realität. Knallhart. Kompromisslos. Das ist und bleibt das größte Plus. Die Attraktivität der Liga lebt von den Spielen der großen Traditionsvereine. Deren Mythos. Meine Meinung. Ein Großteil davon kickt derzeit leider nicht in der Zunft der Top-Könner, ist nur Zaungast. Mein Herz pocht daher woanders. Im Moment. 60 Jahre! Ich mache zum Jubiläum Urlaub von der ersten Garde. Nicht zum ersten Mal. Mit Hertha. Denn wer wirklich Fan ist, kennt keine Klasse, sondern nur seinen Verein. In diesem Sinne: Hallo Bundesliga, ich freue mich auf ein Wiedersehen.
Foto: picture alliance / Laci Perenyi | Laci Perenyi
Ronald Toplak, geboren am 5. Februar 1965 in Berlin, ist seit über 30 Jahren im Sportjournalismus für verschiedene Hauptstadt-Medien tätig. 25 davon als Redakteur beim Berliner Kurier. Er schreibt – nach einer gesundheitlichen Auszeit – nun als freier Autor.