Kay Bernstein (41) ist neuer Präsident von Hertha BSC. Ein Mann aus der Kurve. Ex-Ultra. Heute erfolgreicher Unternehmer. Ein junges Gesicht für die alte Dame. Aufbruchstimmung in der Hauptstadt. Unser Autor Ronald Toplak (57) ist seit Jahrzehnten Fan und hofft, dass Bernstein es schafft, alle Generationen mitzunehmen. Den leckgeschlagenen Dampfer vor der Havarie bewahrt, mit frischem Wind auf Kurs bringt.
Ich musste die Mitgliederversammlung von Hertha BSC erstmal ein paar Tage sacken lassen. Mich schütteln. Sammeln. Verarbeiten, was da geschehen war. Kay Bernstein ist neuer Präsident. Eine Revolution. 41 Jahre jung. Vor allem aber Ex-Ultra. Ein Mann aus der Kurve. Dreimal Stadionverbot. Mitbegründer der Harlekins. Der Capo, Vorsänger, gibt nun den Ton an. Nicht mit dem Rücken zum Spielfeld. Er will voran gehen. Die Augen nach vone gerichtet. Er ist der, sorry, das neue Nonplus-Ultra bei der alten Dame. Ein personifiziertes Versprechen.
Anfangs war ich sauer. Das zermürbende Chaos der letzten Jahre, das längst kein Beobachter mehr als seriös einordnen konnte, hat eben tiefe Spuren hinterlassen. Erstarrt von Wucht und Dramatik allgemeinen Fehlverhaltens. Hertha, meine große Liebe, eine einzige Farce.
Ich war für keinen der Bewerber auf das Präsidenten-Amt. Alternativen gab es allerdings auch nicht. Frust! Es manifestiere sich der Gedanke, einem jahrzehntelangen Irrtum unterlegen zu sein. Also kündigte ich meinen Vertrag mit Hertha. Eigentlich auf Lebenszeit angesetzt. Wie das so ist, wenn man seinen Verein vom Vater in die Wiege gelegt bekommt. In einer wütenden Nachricht teilte ich in meiner Hertha-Gruppe und ausgewählten Freunden den Entschluss mit. Aus. Vorbei. Keinen Bock mehr. Meine neue Ostkurve? Am Ziegelhof, Stadion Hakenfelde, in Staaken. Zurück an die Basis. Dahin, wo Fußball noch wirklich und ehrlich gelebt wird.
„Du? Scheiße. Das hätte ich nie für möglich gehalten. Ich bin fassungslos“, schrieb mir Helmut, nachdem er meine Nachricht erhalten hatte. Er ist Unioner. Eisern total. Mit ganzem Herzen. Schon sein ganzes Leben. Aber einer, der die Fanfreundschaft lebt. Der weit vor der Wende Hertha zum Beispiel im Europapokal-Pokal begleitete.
„Halte ich sowieso nicht durch“, schrieb ich ihm zurück, nachdem ich ein paar Nächte darüber geschlafen hatte „Das klingt doch schon versöhnlicher“, atmete Helmut auf. Schließlich wollen wir gemeinsam zum Derby gehen. Er im Union-Trikot, ich in Hertha-Klamotten. Nebeneinander.
Die Wahl Bernsteins erinnerte mich an den 12. Dezember 1985. An diesem Tag legte Joschka Fischer, als erster Grüner überhaupt, einen Amtseid als Minister ab. In Turnschuhen. Legendär.
Natürlich führte das Tragen dieser knallweißen Treter bei den krawattetragenden Abgeordneten im hessischen Landtag und den Medien zu lebhaften Diskussionen. Doch genau darauf hatte Fischer ja spekuliert. Die Turnschuhe waren ein Symbol. Dafür, dass die Grünen einen anderen Politikstil pflegten: leger, nicht abgehoben. 1985 war Fischer gerade einmal 37 Jahre alt, und in der Anti-Parteien-Partei. Die Turnschuhe waren eine Provokation. Fischer liebte es, Tabus zu brechen, konservative Geister zu ärgern.
Bernstein ist ähnlich drauf, nicht viel älter als Fischer damals. Und Kopf der Anti-Parteien-Partei bei Hertha. Er ist sozusagen der Turnschuhminister der alten Dame. Auch ein Sportverein ist ein politischer Sumpf. Er trat zur Wahl im Gegensatz zur Konkurrenz auch nicht im Buisness-Anzug an. Ihn schmückte eine lässige Hertha-Trainingsjacke. Symbolisierte so Nähe zur Basis.
Mit dem Einzug in die Landesregierung erarbeiteten sich die hessischen Grünen den Ruf, „Realos“ zu sein. Sie öffneten vielen Parteimitglieder die Augen dafür, dass man nicht nur außerparlamentarisch etwas bewegen konnte, sondern auch an den Hebeln der Macht. Eine Parallele zu Bernstein. Er fegte das alteingesessene Establishment förmlich aus seinen Sitzen. Genau das, was die große Mehrheit der Hertha-Mitglieder wollte. Nein, Frank Steffel war als einziger ernstzunehmender Gegenkandidat auch nicht meins. Ehrlich gesagt schon bei den Füchsen nicht, die ich beruflich als Reporter begleitete. Er scheiterte krachend, stand zu sehr für den verkrusteten Hertha- Klüngel. Bernstein indes verkörpert offensichtlich den Aufbruch. Zumindest will er das. Das passt einfach besser zu einem Verein, der verzweifelt (und seit langem vergeblich) nach sich selbst sucht. Fenster auf. Durchlüften. Raus mit dem Mief der Alteingesessenen. Bernstein propagiert Transparenz. Innovation. Er will den schwerfälligen Dampfer endlich wieder in Bewegung bringen. Bevor dieser endgültig absäuft. Der Kurs ist gesetzt. Vom Kapitän, Steuermann. Volldampf voraus. Richtung Neuanfang. Hertha for Future. „Unsere Alte Dame liegt auf der Intensivstation. Jetzt können wir sie von innen ganzheitlich heilen und gesund machen“, sagt er.
Ein hehres Ziel. Das machte ich mir in den letzten Tagen klar. Es ist kurz vor 12. Eigentlich fünf nach. Schlimmer, dachte ich, geht’s sowieso nimmer. Hertha, praktisch handlungsunfähig, am Boden, eine Farce. Die, wenn überhaupt, nur noch belächelt wird.
Ich informierte mich, las viele Berichte, fragte Weggefährten, sah das äußerst empfehlenswerte Interview bei Hertha-TV. Intelligent. Eloquent. Differenziert. Pointiert. Ich revidierte meine voreingenommene Sichtweise, schuf mir so ein neues, positives Bild von Bernstein, der auf den Bolzplätzen Marzahns aufwuchs.
Der jetzt allerdings nicht an Worten, sondern Taten gemessen wird. Der liefern, alle Herthaner mitnehmen muss. Nicht nur die organiserte Fanszene. Auch meine Generation. Die schon im Block stand, als es die Ostkurve und ihn selber noch gar nicht gab.
Ich soll nicht immer von der Vergangenheit schreiben. Sagte kürzlich ein Kollege zu mir.
Warum nicht? Frage ich! Die Geschichte gehört dazu. Sie ist das Fundament eines jeden Vereins. Erst recht, wenn dieser 130 Jahre alt ist. Schon in meiner Jugend erlebte ich eine ewige Berg- und Talfahrt. Himmelhochjauchzend. Zu Tode betrübt. Zumeist? Letzteres! Aber ich will die Zeiten nicht missen. Das ist meine DNA. In Dortmund, Gladbach oder auf Schalke kann jeder Pennäler die Helden vergangener Epochen aufzählen. Dies ist bei Hertha bei den jüngeren Anhängern nicht der Fall. Ete Beer? Okay. Danach wird’s schon schwer. Sagt viel über die Fankultur aus. Die Tradition ist, meiner Meinung nach, in anderen Klubs viel intensiver, tiefer, bewusster verwurzelt. Schade. Das hat Gründe, wurmt mich gewaltig. Ich schweife aber ab.
Zurück zu Kay Bernstein. Ich habe Harlekin-Power hautnah erlebt. War sozusagen selbst einer. Januar 2010. Auswärtsfahrt nach Hannover. Ein bitterkalter Tag. Rückrundenstart. Ich war nicht als Reporter dabei, sondern privat. Mit Kumpels. In Fan-Bussen ging es nach Niedersachsen. Es drohte der Abstieg. Die Lage war, freundlich ausgedrückt, dramatisch. Aber dann: Lukasz Piszczek, Raffael und Theofanis Gekas – 3:0 bei 96. Das Trio ließ uns wieder hoffen. Was für eine grandiose Stimmung. Ich mittendrin. Statt nur dabei. Eingetaucht in ein blau-weißes Fahnenmeer. Die Harlekins hatten nämlich alle Herthaner im Fanblock mit Flaggen ausgestattet. Wir! Alle! Gemeinsam! Hammer!
Gemeinsam. Zusammen. Miteinander. Bernsteins Mantra. Er könnte der Mittler zwischen den Welten werden. Stehplatz und Loge. Business-Sakko und Fan-Trikot. Bier und Prosecco. Bratwurst und Sushi. Denn er steht längst nicht mehr in der Kurve, schon gar nicht vor ihr. Er sitzt seit Jahren selbst bei den Wichtigen, Reichen und Schönen auf der Haupttribüne des Olympiastadions. Wir alle häuten uns im Leben mehrmals, suchen neue Herausforderungen. Bernstein leitet inzwischen erfolgreich ein florierendes Kommunikations-Unternehmen. Respekt.
Aber reicht das als Befähigung, um eine fast beängstigende Herkules-Aufgabe zu bewältigen, einen Multi-Millionen-Klub mit über 40 000 Mitgliedern zu führen? Er findet eine verworrene Gemengelage vor. Ein Gestrüpp aus finanziellen Verlockungen, Seilschaften, politischen Verwicklungen, persönlichen Befindlichkeiten und Intrigen. Vor allem aber massive Verwüstungen der Glaubwürdigkeit. Das will sich eigentlich keiner antun. Bernstein schon. Er setzt sich freiwillig in ein Haifischbecken.
Ist dieser Mann mutig? Oder total verrückt? In jedem Fall handelt er aus Leidenschaft für die alte Dame, bei der er als frisches und junges Gesicht die Falten glättet. „Die letzten Jahre waren durchaus von Unprofessionalität und Chaos geprägt. Jetzt haben wir ein paar Tage hinter uns. Es dreht sich, es wird positiv wahrgenommen, was sich bei Hertha BSC wandelt.“ Er registriert Aufbruchstimmung. Die meisten meiner Hertha-Freunde auch. Sie sind begeistert, der Vertrauens-Vorschuss riesig. Motto: Hurra, einer von uns! Ich, das gebe ich zu, habe als ewiger Defätist weiter meine Zweifel, ob er der Mammut-Aufgabe gewachsen ist. Die Sache nicht eine Nummer zu groß ist.
Zweifel hatte ich aber auch bei Joschka Fischer. Damals lag ich mächtig falsch. Die Geschichte belehrte mich eines besseren. Vielleicht gelingt dies Bernstein nun als Turnschuh-Präsident. Als Hertha-Joschka. Als Mann der Kurve. Als Menschen-Fischer. „Verzeihen, verstehen, vorwärts gehen. Eine ausgestreckte Hand für jeden Herthaner, gerade auch für jene, die mich nicht gewählt haben und vielleicht immer noch skeptisch sind, die Vorbehalte oder Ängste haben“, sagte er dem Tagesspiegel. Damit bin auch ich gemeint. Na dann. Ran an die Bouletten.
Die Fans haben am Strand der Träume Bernstein gesucht. Und gefunden. Fehlt noch eine glänzende Zukunft. Die hoffentlich nicht vom Windhorst verweht wird. Zu wünschen wäre es. So rufe ich dem Kutten-Messias – dem Nonplus-Ultra – zu: Du hast kayne Chance. Also nutze sie!
Bild: picture alliance/dpa | Britta Pedersen
Ronald Toplak, geboren am 5. Februar 1965 in Berlin, ist seit über 30 Jahren im Sportjournalismus für verschiedene Hauptstadt-Medien tätig. 25 davon als Redakteur beim Berliner Kurier. Er schreibt – nach einer gesundheitlichen Auszeit – nun als freier Autor.