Die ehemalige Stammkneipe von Robin Gosens kennt unser Autor Ronald Toplak sehr gut. Das „Blues“ in Rehde. Dort feierte er seinen 50. Geburtstag. Seine Freundin Sabrina lebt in dem kleinen Ort im Münsterland. Nur einen Steinwurf entfernt. Ein Erlebnis-Bericht über den Unterhaltungs-Tempel, der einst das Wohnzimmer des Nationalspielers war, der von Inter Mailand zum 1.FC Union wechselte. Lokaltermin. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Mit rund 15 Millionen Euro ist der 29-Jährige der teuerste Einkauf in der Geschichte des Berliner Emporkömmlings. Ich konnte es kaum glauben. 2500 Fans begrüßten den Star zu dessen ersten Training. Was für ein Hype an der Alten Försterei. Damit hätten früher in der heimatlichen Dorfdisco wirklich nicht einmal die kühnsten Optimisten gerechnet. Plötzlich reden in Rhede alle nur noch über den berühmtesten Sohn des Städtchens. Logisch, in dem eher beschaulichen 20 000-Seelen-Nest kennt praktisch jeder jeden. Ganz anders als im Bezirk Treptow-Köpenick. Allein am Rande der Hauptstadt leben knapp 281 000 Menschen.
Livemusik steht im Blues, Spitzname „Bierschubserei“, auf dem Unterhaltungsprogramm. Zudem launige Mottopartys, Schützenfeste, Karneval. So ist es eben, im niederrheinischen Tiefland. Vor allem aber läuft Fußball. Viel Fußball. Eigentlich immer Fußball. Was nicht einfach unter einen Hut zu bekommen ist, denn die Vorlieben der Gäste sind kontrovers. In den Vorgärten in und um Rhede hängen entweder Fahnen von Schalke 04, Borussia Dortmund oder Borussia Mönchengladbach. Im Blues werden die Fangruppen getrennt. Oben Königsblau, unten der BVB, die Fohlen in einem Nebenraum oder im Biergarten. Manchmal auch umgekehrt. Dann gibt es eben noch meine Freundin Sabrina, die tapfer ihr Hertha-Trikot trägt und auf einem kleinen Fernseher an der Bar die Spiele der alten Dame aus ihrer Heimatstadt verfolgen muss. Von den Gästen ob ihrer blau-weißen Leidenschaft mitleidig belächelt.
Mir erging es nicht anders. Anlässlich meines 50. Geburtstages war ich nach NRW geflüchtet. Ich versteckte mich im Kreis Borken vor ungewollten Feierlichkeiten und meiner Midlife-Crisis. Am Vorabend des 5. Februars 2015 trafen wir uns im Blues. Hertha schauen. Auf eben dem kleinen TV am Tresen. Ohne Ton. War auch nicht nötig. Hertha verlor 0:1 gegen Bayer Leverkusen. Meine Stimmung war endgültig im Keller. Hohn und Spott ausgesetzt, meinte die hübsche Tresenkraft umsatzfördernd: „Ich bin auch für Hertha!“, während sie milde lächelnd das nächste Altbier zapfte. „Können diese Augen lügen?“, dachte ich. Da weckte mich Sabrina aus meiner Tristesse. „Komm, ich muss dir jemanden vorstellen.“ Sprach’s und schob mich sanft, aber bestimmt an den Stammtisch. Soweit zum Thema dominante Frauen.
Dort saß er, André Knoch, der charismatische Chef des Ladens. „Er hat gleich Geburtstag. Seinen 50igsten“, stellte mich Sabrina vor. Zur Begrüßung gab es die legendäre „Rheder Ampel“, eine regionale Likör-Spezialität (hat sogar einen Wikipedia-Eintrag), bestehend aus Schlehe (rot), Anis (gelb) und Pfefferminz (grün). Die drei Gläser werden nacheinander weggekippt. Mit unterschiedlichen Regeln und Reihenfolgen. Ein Getränke-Kult, der das Reinfeiern ernsthaft bedrohte.
André ist ein Fußball-Nerd. Ein wandelndes Lexikon. Genauso werde auch ich von meinen Kumpels kopfschüttelnd beschrieben, oft genug für die obskursten Wetten ausgenutzt. Schnell waren wir im Gespräch, schossen uns die Bälle zu. Im Rausch der Geschichten, nicht der heimischen Schnaps-Genüsse. Endlich mal einer, mit dem man auf Augenhöhe quatschen konnte. Gut so! Alan Simonsen, Luggi Müller, Klaus Fischer, Erich Beer, Siggi Held, Kalle Riedle, Jupp Heynckes, Marcelinho, Raffael, Lucien Favre, Huub Stevens, Adrian Ramos, Giuseppe Reina, Kevin-Prince Boateng, Steffen Baumgart. Über alle und noch viel mehr gab es etwas zu sagen. Es ist ein Geschenk, mit Typen zu fachsimpeln, die genauso bekloppt sind wie ich. Anekdoten in Endlosschleife. Bis der Gong unmissverständlich schlug. Mitternacht. Die Ampel stand sozusagen auf grün. Lokalrunde. Selten habe ich so gerne einen ausgegeben.
Klar, dass ich bei André anrufen musste. Um nachzufragen, was man in Rhede bei den alten Kumpels so über den Wechsel Gosens an die Alte Försterei denkt. Er erkannte mich sofort. „Der Sportreporter!“ Erstaunlich. Immerhin ist mein letzter Besuch acht Jahre her. Da kickte der lokale Held noch beim FC Dordrecht in den Niederlanden. Weitestgehend unter dem Radar der deutschen Öffentlichkeit. „Er ist einer von uns“, erklärt André energisch. Der ist seit vier Jahren als Sportdirektor so etwas wie der Oliver Ruhnert des VfL Rhede, dem Heimatklub von Gosens. In der C-Jugend war er vom 1.FC Bocholt zum heutigen Landesligisten gewechselt. „Das war damals unsere goldene Generation. Die Talentspäher hatten eigentlich andere Leute als den Robin auf dem Schirm“, erklärt André. Es kam anders. Im Zuge eines A-Jugend-Spiels fiel der Linksverteidiger einem Scout des niederländischen Erstligisten Vitesse Arnheim auf. „Genau so einen haben sie wohl gesucht .“
Der Beginn eines Fußball-Märchens. Mehr Aschenputtel geht nicht. Denn nichts hatte darauf hingedeutet. Als 18-Jähriger pendelte Robin jedes Wochenende zwischen dem Blues und dem Fußballplatz hin und her. Von wegen Leistungszentrum. „Er stand immer mit den anderen Lümmeln an der Bar. Sie machten das, was Teenager eben so machen“, lacht André. Daraus macht Gosens auch überhaupt keinen Hehl: „Wir sind nach zwei, drei Stündchen Schlaf mit 1,5 Promille aufgestanden, haben uns in den Bus gesetzt und sind zum Auswärtsspiel gefahren“, erzählt er. Ja, das kenne ich aus meiner aktiven Karriere bei Teutonia Spandau. „Vorschepper-Disco“, nennt Gosens den legendären Tanzschuppen. „Ganz normale Jungs“, sagt André. Dann der Durchbruch für Gosens über die Stationen Heracles Almelo, Atalanta Bergamo und schließlich Inter Mailand. Noch Anfang Juni stand er mit dem italienischen Welt-Klub im Finale der Champions League, das unglücklich 0:1 gegen Manchester City verloren ging. „Natürlich haben wir mitgefiebert, uns gefreut, als Robin nach seiner Einwechslung nochmal richtig Dampf machte“, sagt André. Wie auch bei der EM 2021, als Gosens in der Nationalmannschaft mit herzerfrischenden, unbekümmerten Auftritten wie aus dem Nichts zum Liebling der Nation wurde. Wahnsinn! Ein kometenhafter Aufstieg. „Anscheinend haben die Trainer beim VfL Rhede vier Jahre nicht viel falsch gemacht und wir haben mit den richtigen Elektrolyten das Übrige getan. Vielen Dank für die weltweite Werbung“, jubelte das Blues euphorisch via Facebook.
„Robin wollte als Profi immer mal in Deutschland spielen“, weiß André. Am liebsten auf Schalke. „Aber die können ihn als aktueller Zweitligist nicht bezahlen“, meint André. „Wolfsburg wollte ihn auch. Aber ehrlich, willst du da hin? Union, das passt.“ André grübelt: „Jetzt kommt auch noch Kevin Volland aus Monaco. Ein Hammer-Spieler. Von Hertha haben sie Lucas Tousart geholt. Grenzwertig, wie ich finde. Man sollte den Lokalrivalen nicht treten, wenn der sowieso schon am Boden liegt. Ich hoffe, dass Union seinem bisher erfolgreichen, sympathischen Style treu bleibt.“
Authentisch, kantig, echt. Die Eisernen und Gosens sind sich sehr ähnlich. „Der Junge ist bodenständig, nicht abgehoben, so normal wie nur sonst irgendwas“, schwärmt André. „Als Robin noch in Bergamo spielte, hatten wir einen Wohltätigkeits-Bazar. Ich rief ihn an, fragte nach einem Trikot. Es kam postwendend. Natürlich unterschrieben. Wir wollten es versteigern. Problem, damals war das Interesse an ihm noch relativ gering. Also kaufte ich es kurzerhand selbst. Heute wäre das natürlich anders.“
In seiner Eigenschaft als Funktionär freut André die Unterschrift Gosens an der Spree: „Der VfL verdient bei jedem Wechsel mit, bekommt eine Ausbildungsvergütung. Geld, das wir sehr gut gebrauchen können. Wir werden jetzt aber nicht irgendwelche abgehalfterten Spieler holen. Wir setzten weiter auf den Nachwuchs, investieren die Summe lieber in unsere Infrastruktur.“ Dem Vernehmen nach rund 300 000 Euro. Viel Kohle für einen Provinzklub. „Es ist nicht einfach, ein Team zusammenzustellen. Manchmal sind Spieler, die noch auf dem Mannschaftsfoto zu sehen sind, am nächsten Tag schon wieder weg.“ Überspitzt gesagt: Party-Gosens sorgt für volle Kassen. Ein Segen für den VfL, der 2020 100 Jahre alt wurde.
In jedem Fall sollten sich in Köpenick die einschlägigen Fankneipen wie die Abseitsfalle oder Tusches Kick & Rush 17 von Ex-Profi Torsten Mattuschka auf Gosens einstellen, vielleicht sogar die Rheder Ampel auf die Karte nehmen. „Ein paar Kumpels von ihm werden bestimmt zu Besuch kommen. Er hält immer noch Kontakt.“ Zudem lebt der Neuzugang die Identifikation mit seinen jeweiligen Klubs. In Bergamo war es zum Beispiel sein Ritual, nach dem Training in eines der Cafés zu fahren. Er setzte sich zwischen die Menschen, trank mit ihnen Espresso, fragte, wie sie das Spiel am Wochenende fanden. Stargehabe ist ihm fremd. In der Lombardei haben sie ihm für diese ungekünstelte, ehrliche Nahbarkeit geliebt. Das wird rund um die Wuhlheide mit Sicherheit nicht anders sein.
In Rhede gibt es derweil eine Zeitenwende. Im Blues werden neben den Trikots vom Schalke, Gladbach und Dortmund bald auch die Leibchen von Union zu sehen sein. Wetten? Vielleicht muss Chef André sogar noch einen zusätzlichen Raum schaffen, um künftig die Spiele der Eisernen zu zeigen. Am Sonntag, wenn der FCU gegen den FSV Mainz 05 in die neue Bundesliga-Spielzeit startet, gibt es keine Konkurrenz. Da sind in Rhede alle im Gosens-Fieber. Robin total. Auf allen Bildschirmen und Leinwänden. „Vielleicht kommt Robin ja mal wieder vorbei, wenn er die Zeit findet“, hofft André. Ich habe mich jedenfalls mit dem Kneipen-Boss im Blues verabredet. Auf einen Plausch unter Fußball-Verrückten. Spätestens zu meinem 60. Geburtstag. Ist ja nicht mehr so lange hin. Der Plan: Eine Rock-Night! Mit mir als DJ, die Regler am Anschlag. Den Party-Tempel von Gosens in den Grundfesten zu erschüttern, ja, diese Aufgabe ist reizvoll. Da werden die Fensterscheiben bis nach Köpenick vibrieren. Allerdings bin ich inzwischen auf Kamillentee umgestiegen. Vielleicht gibt es ja eine alkoholfreie Variante der Rheder Ampel. „Grüße Robin von uns, wenn du ihn siehst“, bat André zum Schluss. Das mache ich. Versprochen!
Foto: picture alliance / BEAUTIFUL SPORTS/Luciano Lima | BEAUTIFUL SPORTS/Luciano Lima
Ronald Toplak, geboren am 5. Februar 1965 in Berlin, ist seit über 30 Jahren im Sportjournalismus für verschiedene Hauptstadt-Medien tätig. 25 davon als Redakteur beim Berliner Kurier. Er schreibt – nach einer gesundheitlichen Auszeit – nun als freier Autor.