Am Samstag [20.45 Uhr, RTL] trifft die deutsche Fußball-Nationalmannschaft in Berlin auf die Türkei. Vor 40 Jahren herrschte beim Aufeinandertreffen beider Länder im Olympiastadion der Ausnahmezustand. Rechtsradikale Gruppierungen hatten mit ausländerfeindlichen Ausschreitungen gedroht, versetzten West-Berlin in Angst und Schrecken. Die Furcht vor Randale war groß. Nur 35000 Zuschauer verloren sich im weiten Rund. Unser Autor Ronald Toplak erinnert sich.
26. Oktober 1983. Ein Datum, das mir in prägender Erinnerung geblieben ist. Vor fast auf den Tag genau 40 Jahren gastierte die Nationalmannschaft der Türkei im Olympiastadion. Gegen die von Jupp Derwall trainierte DFB-Auswahl gab es in der EM-Qualifikation eine deftige 1:5-Niederlage. Was aber nur am Rande interessierte. Denn Berlin befand sich im Ausnahmezustand. In kollektiver Angst. Wohlgemerkt wegen eines Fußball-Spiels.
West-Berlin, 1983. Ich war ein Bilderbuch-Teenager. Zum Leidwesen meiner Eltern. Das personifizierte Pupertier. Ich war gegen alles. Verweigerte. Protestierte. Demonstrierte. So auch an diesem nasskalten Mittwoch vor 40 Jahren. Mit gutem Grund. Neonazis aus dem gesamten Bundesgebiet mobilisieren zum „Kampf“ gegen das „Türkenpack“. Während des Spiels wollen sie ein „Signal für Deutschland“ setzen, in Kreuzberg „linke Türkennester“ ausheben. Die Stadt war über Wochen „neurotisiert“, wie die „taz“ befand. Der Regierende Bürgermeister Richard von Weizsäcker fühlte sich zu einer Fernseh-Ansprache genötigt.
West-Berlin, 1983. Eigentlich wäre das Spiel ein Leckerbissen für alle Fans gewesen. Der Vizeweltmeister kam mit Stars wie Karl-Heinz Rummenigge, Lothar Matthäus, Rudi Völler oder Pierre Littbarski. Im türkischen Team sprachen einige Spieler fließend Deutsch. Wie İlyas Tüfekçi, Ex-Herthaner und erster türkischer Profi auf Schalke. Dortmund-Legende Erdal Keser beeindruckte mit seiner Eloquenz. Selçuk Yula, eine Ikone am Bosporus, kam später als Sensations-Transfer zum damaligen Bundesligisten Blau-Weiß 90. Edel-Kicker, wohin man schaute. Zusehen wollten trotzdem nur wenige. 35000 Zuschauer verloren sich im gähnend leeren Olympiastadion. Verständlich. Die Furcht vor Randale lähmte. Ein brauner Schatten verdunkelte den eingemauerten Teil der Metropole.
West-Berlin, 1983. Das war eine multikulturelle Insel. Ein surreales Soziotop. Spießer und Spinner, Punks und Popper, Ökos und Rocker, New Waver und Hausbesetzer. Ost und West waren sich so fern wie nie, die Teilung scheinbar endgültig. Die Wehrpflichtbefreiung und der Wunsch, dem bürgerlichen Leben einer Kleinstadt zu entkommen, trieb viele junge Männer an die Spree. Einige machten mit mir Abitur. Praktisch saßen sie in einem Gefängnis. Ein Zurück in die Bundesrepublik gab es nicht. Sie wollten es nicht anders. Die durch ein Betonmonster verursachte Isolation machte West-Berlin in den 70er- und 80er-Jahren zum Sammelbecken, Kultort und Biotop für alternative Lebensentwürfe.
West-Berlin, 1983. Wir wuchsen mit Türken auf. In der Schule. Beim Sport. Tür an Tür. Miteinander. Das ist keine Verklärung, sondern Tatsache. Ich erinnere mich noch genau, als im Falkenhagener Feld der erste Döner aufmachte. Wir staunten. Fladenbrot mit vom Spieß geschabten Fleischfetzen, Salat und Soße. Was, bitteschön, sollte das denn sein? Der Preis lockte. 2 Mark, glaube ich. Es schmeckte. So ganz anders als die gewohnte Curry mit Pommes. „Kebab-Träume in der Mauerstadt. Türkkultur hinter Stacheldraht“, fasste es die Band „Fehlfarben“ treffend zusammen. Die Rotkohl-Stulle wurde schnell zum Grundnahrungsmittel, der Döner-Laden ein echter Integrations-Trigger, Instanz und Treffpunkt für die Bewohner im Kiez. Beim Döner um die Ecke sind alle gleich.
West-Berlin, 1983. Was viele vergessen, 1961 wurden mit dem bilateralen Anwerberabkommen die Tore Deutschlands für Türken weit aufgetan. Vor allem West-Berlin profitierte davon. Denn es fehlte nach dem Mauerbau das Arbeitskräfte-Reservoir aus dem Ostteil. Es entwickelte sich die „größte türkische Stadt“ außerhalb der Türkei mit etwa 200000 Berlinern türkischer Herkunft. Zum guten alten West-Berlin gehörten bald auch die guten alten Türken. Sie waren das Salz und der Safran der Stadt, bewohnten zumeist einen Teil von ihr, den alle nur SO36 nannten, das wilde alte Kreuzberg, von wo aus sie sich langsam nach 61 ausbreiteten, nach Neukölln, oder in meinen Heimatbezirk Spandau in das Quartier um die Lynarstraße.
West-Berlin, 1983. Zurück zum Fußball. In der Nacht vor dem Fußballspiel war ganz Kreuzberg auf den Straßen, um durch massive Präsenz türkische Läden zu schützen. Auch meine Freunde und ich wollten Zeichen setzen. Gegen Rechts. Motto: Döner mit allet. Außer braune Sauce.
West-Berlin, 1983. Wir zogen los. Gefolgt von sorgenvollen Blicken der Eltern. Aber sie verboten uns den Besuch des Stadions nicht. Es war nebenbei mein erstes Live-Länderspiel. Vor der Arena wurde Obst und Baklava gereicht. Wir verteilten Aufkleber in Form von Rosen, die Blätter in den Landesfarben der sportlichen Kontrahenten. Vor allem an in Bomberjacken gekleidete Personen mit nicht vorhandenem Haarschmuck. Beantwortet zumeist mit nicht druckreifen Sprüchen. Gewerkschaften und Studentenverbände hatten vorzeitig Karten aufgekauft, damit möglichst viele Deutsche türkischen Freunden und Kollegen beim Länderspiel Geleitschutz geben konnten.
West-Berlin, 1983. Die Polizei war mit 6000 Beamtinnen und Beamten im Einsatz. Erstmals gab es Personenkontrollen am Einlass. Die Nervosität war überall greifbar. Entgegen der wochenlangen Drohungen blieben größere Gewalttaten dann aber aus. Die wenigen Nazis wurden ausgepfiffen. „Es ist überstanden“, atmete der „Tagesspiegel“ erleichtert auf. Die nach Einschätzung von Sicherheitsexperten befürchtete Begegnung „der unheimlichen Art“, der braune Spuk – nur ein Schreckgespenst. Zum Glück.
Berlin, 2023. 40 Jahre später kommt es erneut zu einem Duell gegen die Türkei im Olympiastadion. Ein so genanntes Freundschaftsspiel. Wieder ist die Stimmung aufgeladen. Diesmal durch die Eskalation im Nahost-Konflikt, den Angriff der Hamas auf Israel. Der Krieg hat die Straßen Berlins erreicht. Was sich vor allem in Nord-Neukölln zeigt, einem kulturellen und sozialen Dauerbrennpunkt. Etwa jede zweite Person hat einen Migrationshintergrund. Man spürt unversöhnlichen Antagonismus. Ich kann das beurteilen, lebe ich doch selber in einem „Gebiet mit besonderem Aufmerksamkeitsbedarf“, wie es in nüchternem Amtsdeutsch heißt. Selbst der Besuch meines präferierten Gemüsehändlers wird durch eine bleierne Schwere belastet.
Berlin, 2023. Multi-Kulti? Wie weggeblasen. Antisemitismus auf Massendemos. Krawalle, brennende Autos, Hassparolen rund um die Sonnenallee, brennende Israel-Flaggen am Hermannplatz, Anschlag auf die Synagoge in der Brunnenstraße.
Berlin, 2023. Ausgerechnet in dieser aufgeheizten Gemengelage besucht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Hauptstadt, der sich als einer der prominentesten Fürsprecher der Terrororganisation Hamas präsentiert – und als scharfer Kritiker Israels, dessen Sicherheit in Deutschland Staatsräson ist. Der Jubel vieler Landsleute im Olympiastadion dürfte ihm sicher sein, unter Deutschtürken hat Erdogan proportional noch mehr Anhänger als in der Heimat. Sie fühlen sich Deutsch. Und irgendwie doch nicht. Eine Zerrissenheit, die Ilkay Gündogan personifiziert. Der Star vom FC Barcelona und Mesut Özil posierten 2018 gemeinsam mit Erdogan im Vorfeld der WM auf einem Foto. Ein Eklat, der hohe Wellen schlug. Weltmeister Özil trat aufgrund der anschließend geführten Kontroverse zurück. Gündogan entschuldigte sich, ist inzwischen sogar Kapitän der DFB-Auswahl. Er bestreitet das erste Länderspiel gegen das Heimatland seiner Eltern. „Es wird ein sehr besonderes Spiel für mich – gar keine Frage.“ Hoffentlich wird er von den türkischen Fans nicht gnadenlos ausgepfiffen wie Özil 2010 in der Hauptstadt beim 3:0-Sieg im Rahmen der EM-Quali, weil der damalige Jung-Star im Trikot mit dem Bundesadler traf.
Berlin, 2023. Die Nerven liegen blank. Der Sprecher der Berliner Polizeigewerkschaft GdP in Berlin, Benjamin Jendro, bat auf X: „Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, könnten Sie Erdogan bitten, das Spiel zu Hause vorm Fernseher zu schauen?“ Dies tut er wohl. Ein Besuch der Partie ist für den bekennenden Fußball-Fan laut DFB nicht geplant. Gut so. Das Olympiastadion darf nicht zum Podium für Propaganda, Hetze, Täter-Opfer-Umkehr werden. Was ich dennoch befürchte. Es war der schrecklichste Angriff auf Jüdinnen und Juden seit der Shoah. Das muss man so klar benennen. Es ist inakzeptabel, wenn das Massaker der Hamas gefeiert, zum Akt der Befreiung verklärt wird. Draufhauen statt Innehalten sind Teil eines Konflikts, bei dem keiner dem anderen mehr zuhört. Auch das ist die Wahrheit. So wird die Spirale der Gewalt angetrieben. Ein Teufelskreis. Bleibt zu hoffen, dass Pragmatiker beider Seiten einen Weg aus dieser Sackgasse der Eskalation finden.
Berlin, 2023. Also muss ich hin. Obwohl ich eigentlich eine andere Verabredung hatte. Meine Schwester hat Geburtstag. Zudem tritt 10CC im Metropol auf. Stattdessen rein ins Stadion. Wie damals, als die Rechten zur „Türkenhatz“ aufriefen, Kreuzberg „brennen“ lassen wollten. 40 Jahre später fühle ich mich erneut verpflichtet, Zeichen zu setzen. Diesmal gegen Krieg, Judenhass, Fanatismus und Terror. Für Frieden in Nahost. Für alle unschuldigen Opfer.
Berlin, 2023. Fühlt sich wie 1983 an. Ein anderer Konflikt. Mit der gleichen Angst. Ein unbeschwertes Fußball-Fest? Wird es nicht geben. Wieder nicht. Leider.
Ronald Toplak, geboren am 5. Februar 1965 in Berlin, ist seit über 30 Jahren im Sportjournalismus für verschiedene Hauptstadt-Medien tätig. 25 davon als Redakteur beim Berliner Kurier. Er schreibt – nach einer gesundheitlichen Auszeit – nun als freier Autor.