Er war der erste Moderator der »Sportschau« und blieb zwei Jahrzehnte lang ihr Gesicht: Nun ist Ernst Huberty im biblischen Alter von 96 Jahren verstorben. Nur kurz nach Heinz Florian Oertel (95) ist eine weiterte legendäre Stimme des Sports verstummt.
Früher, in den 70er-Jahren, wenn mein Vater und ich am Samstagnachmittag zum Fußball gingen, wurde es nach dem Schlusspfiff hektisch. Wir hetzten so schnell als möglich nach Hause. Die Sportschau stand auf dem Programm. Neben dem Besuch der Kirche am Sonntag der wichtigste Termin am Wochenende. Angekommen, wartete schon meine Mutter mit fast diabolischem Grinsen: „Wisst ihr schon die Ergebnisse? Also, die Bayern haben ja …“. Verzweifelte Blicke. In Zeiten ohne Smartphone war man noch so herrlich desinformiert. „Mama, sag nichts!“ Tat sie auch nicht. Sie ließ uns die Spannung. Aber sie freute sich diebisch. Immer. Ein Ritual. Gehörte eben dazu. Es hätte etwas gefehlt, wenn sie nicht gefragt hätte. Fernseher an. Bundesliga. Dann erschien er auf dem Bildschirm: Ernst Huberty. Anzug. Krawatte. Ruhig, zurückgenommen, unaufgeregt. Fast schon staatsmännisch. Ein bisschen, wie mein ehemaliger Latein-Lehrer. Er war der Mann, der am 4. Juni 1961 die allererste „Sportschau“ moderierte. Und gehörte fortan fast zur Familie.
Zwischen 18 und 19 Uhr war das Wohnzimmer ein Hochsicherheitstrakt, Anrufe verboten. Das war Gesetz im Hause Toplak. Nie werde ich den bitterbösen Blick meines Vaters vergessen, wenn das Telefon klingelte. So, als ob man Huberty stören würde. Ignorante Kumpels wagten es dennoch, geradezu tollkühn, anzurufen. Zwecks Wochenendplanung. Was zum Leidwesen meines Altforderen oft passierte. Ich war so etwas wie der Party-Dispatcher. Dann gab es noch Herrn Mischke. Ein Freund meines Vaters. Den interessierte Fußball nur marginal. Selbst das ist eine Übertreibung. Man konnte die Uhr danach stellen, um 18.15 Uhr war Karl-Heinz an der Strippe. Genauso regelmäßig wurde er abgewürgt. „Nicht jetzt!“ Rumms, wurde der Hörer aufgelegt. Ja, Papa hatte es wirklich nicht leicht.
Ernst Huberty war „Mister Sportschau“. Zettel in der Hand, mit streng gekämmten Klappscheitel und einem freundlichen Lächeln präsentierte er den Spieltag. Sachlich. Korrekt. Neutral. Der Mann unseres Vertrauens. Und Erfinder des „Tor des Monats“.
Unfrieden gab es nur, wenn wir mal wieder vergeblich auf den Bericht von Hertha BSC warteten. Damals wurden nur drei Zusammenfassungen gezeigt.
21 Jahre lang war er das Gesicht der Sendung. Er kommentierte auch das Jahrhundertspiel Deutschland gegen Italien beim Weltmeisterschafts-Halbfinale 1970 in Mexiko, das ich als Knirps im Urlaub in Bulgarien verfolgte. Inzwischen habe ich es gefühlt 100 Mal gesehen. Und den legendären Ausspruch gehört: „Schnellinger. Ausgerechnet Schnellinger“. Karl-Heinz Schnellinger hatte in der 90. Minute den Ausgleichstreffer erzielt – er, der seit Jahren in Italien spielte. Während die Nation im Ausnahmezustand war, blieb die Stimme von Huberty ruhig, reduziert. Unaufgeregt, wie die eines Nachrichten-Sprechers. Mehr brauchte es nicht. Brüllen? Eskalieren? Durchdrehen? Waren ihm fremd. Dieser Mann behielt in jeder Sekunde die Contenance. Eine Sprache, ganz anders als in diesen Zeiten. So wunderbar entschleunigend. Ein wohltuendes Beispiel für einige hyperaktive Mikrofon-Schreihälse heutzutage. Manche würden sagen, dass seine Reportagen so emotional wie ein Pflasterstein waren. Für mich waren sie seriös, stilvoll, tiefenentspannt. Hektik? Niemals. Nicht einmal die legendäre Wasserschlacht von Frankfurt bei der WM 1974, als die DFB-Elf nach sintfutartigen Regenfällen gegen Polen mit 1:0 ins Finale einzog, brachte ihn auch nur im Ansatz aus der Ruhe. Seine sonore Stimme ließen meinen Vater und mich vor der Glotze wieder in den Normalzustand zurückkehren. Baldrian für die angespannten Nerven. Auch beim Finale der EM 1976, das ich ausnahmsweise mit meiner Oma schaute (eigentlich hätte ich längst ins Bett gemusst), bei der Uli Hoeneß den entscheidenden Elfmeter in den Nachthimmel von Belgrad schoss und die Tschechoslowakei Europameister wurde. Im Moment des Dramas, meiner Fassungslosigkeit im orangenen Frottee-Schlafanzug, schwieg er. Dann sagte er nur: „Es ist der einsamste Augenblick.“ Kurz. Knapp. Prägnant. Man darf als Kommentator sein Publikum nicht „entmündigen“, indem man „zu viel erklärt“, war seine Erklärung. Er brachte die Dinge auf den Punkt.
Ich war selbst erstaunt, als ich feststellte, dass er schon 1982 wegen einer Spesenaffäre als WDR-Sportchef abgesetzt und ins Dritte Programm verbannt wurde. Das ist 41 Jahre her. Unglaublich. Irgendwie war er mir immer präsent. Als DAS Gesicht der Sportschau.
Bis zu seinem 87. (!) Lebensjahr bildete er noch Generationen an Nachwuchs-Talenten aus. Insofern ist sein Einfluss allgegenwärtig. Die Brillanz des Unspektakulären. Seine Stimme wird nachhallen. Einer Ikone der Eloquénz. Von einem Künstler der Sprache. Einem Gentleman am Mikrofon.
Foto: picture-alliance / dpa | Horst Ossinger
Ronald Toplak, geboren am 5. Februar 1965 in Berlin, ist seit über 30 Jahren im Sportjournalismus für verschiedene Hauptstadt-Medien tätig. 25 davon als Redakteur beim Berliner Kurier. Er schreibt – nach einer gesundheitlichen Auszeit – nun als freier Autor.