Es war ein Extrem der Gegensätze. Auf der einen Seite Borussia Dortmund. 0:2-Rückstand gegen Mainz. In jedem Schritt lief das Scheitern mit. Es reichte am Ende nur zu einem 2:2. Traum geplatzt. Meisterschaft am letzten Spieltag noch aus der Hand gegeben. Was für ein Drama! Auf der anderen der 1.FC Heidenheim. 0:2-Rückstand im Regensburg. Ausgleich 90+3. Siegtreffer 90+9. Zweitliga-Meister. Aufstieg. Was für ein Wille. Heidenheim. Heidengeil.
Heidenheim? Vielleicht schreibt hier die Arroganz eines Großstädters. Aber die meisten Berliner kennen wahrscheinlich den Ballermann besser als die Ostalb. Aber: Der selbst ernannte Hauptstadt-Klub Hertha BSC spielt in der kommenden Saison in Liga 2. Wenn überhaupt. Und der kleine FCH in der deutschen Beletage. Unglaublich. „Allein schon, welche großen Namen wir in der Zweiten Liga hinter uns gelassen haben. Es braucht etwas, alles zu realisieren“, kann FCH-Boss Holger Sanwald sein Glück kaum fassen.
Ganz ehrlich: Für mich ist es die größte Sensation der Bundesliga-Geschichte. Da kann nicht einmal die sicher ebenfalls spektakuläre Qualifikation des 1.FC Union Berlin zur Champions League mithalten. Was sich, zugegeben, auch unwirklich anfühlt. Real Madrid in der Königsklasse an der Alten Försterei? Das ist unbestritten atemberaubend, aber das Ergebnis einer konsequenten Erfolgsgeschichte.
Doch Heidenheim an der Brenz gegen Bayern München, Dortmund oder Gladbach? Das ist surreal. Das kleine Städtchen hat weniger Einwohner (50 000) als zum Beispiel Hertha BSC Zuschauer im Schnitt (53 668).
Heidenheim. In der Karl-Liebknecht-Straße in Berlin-Mitte leben mehr Menschen. Auf der linken Seite, wie ich spöttisch zu sagen pflege.
Heidenheim. Die Puppenstube des deutschen Fußballs. Nicht abfällig gemeint. Ein romantischer, pittoresker Ort. Der totale Gegenentwurf zu Berlin, einem Moloch aus Beton und Stein. Grauen Fassaden, die von grellen Werbeplakaten unterbrochen werden, Motorenlärm, hektischen Gedränge, Gesprächsfetzen in der U-Bahn. Menschen ohne Gesichter. Monoton, steril, festgefroren. Fratzenhaft. Zu Masken erstarrt. Eben eine graue, uniforme Masse.
Heidenheim dagegen ist Postkartenpanorama pur. Die Wege sind kurz. Kaum da, ist man auch schon im Zentrum. Eine kleine, feine Welt. Liebevoll restauriert erzählen die schmucken Fassaden vom Wandel der Zeiten. Über allem thront majestätisch das Schloss Hellenstein. Auf dem Marktplatz sitzen, in die Sonne blinzeln und die Umgebung auf sich wirken lassen. Das Kleinstadtleben geht seinen gemächlichen Gang. Die perfekte Rezeptur für die, die schleunigst etwas Entschleunigung suchen. Einfach die Seele baumeln lassen. Schön!
Ich will mir gar nicht vorstellen, wenn gegnerische Fan-Horden über diese Wohlfühl-Idylle herfallen. Alles ist anders. In Heidenheim. Selbst das Stadion ist ein Schmuckkasten. Eher ein winziges Schmuckkästchen. 15 000 Zuschauer passen rein. Auf die größte Stehtribüne des Oberhauses, der Süd in Dortmund, passen doppelt so viele Anhänger.
Oder der Trainer Frank Schmidt. Der ehemalige Junioren-Nationalspieler ist DER Trainer-Dino im Profifußball! DAS Gesicht des Erfolges.
Seit 2007 coacht er die Heidenheimer, schaffte mit ihnen in seiner ersten Saison den Aufstieg in die Regionalliga und danach den Durchmarsch in die 3. Liga. 2014 dann der Aufstieg in die 2. Bundesliga.
In dieser Statistik ist sogar Christian Streich (seit 2012 Cheftrainer des SC Freiburg) nur eine Randnotiz. Mehr Normalo als Schmidt geht nicht. „Mein ganzes Leben ist nachhaltig. Ich bin auch noch mit meiner ersten Freundin zusammen. Es passt einfach.“ Als Spieler kickte er unter anderem für den TSV Vestenbergsgreuth, war einer der Helden des legendären Pokalwunders gegen den FC Bayern München in der Saison 1994/95, als die Amateure den Rekordmeister 1:0 besiegten. Damals ging es gegen sein fußballerisches Vorbild Lothar Matthäus. Schmidt lebt mit seiner Frau und mehreren Chihuahuas in einem Reihenhaus im Dörfchen Bachhagel (15 Minuten vom Heidenheimer Stadion entfernt). Schmidt personifiziert den Klub. Er ist ein Kind dieser Stadt, dort geboren und in Giengen an der Brenz aufgewachsen. „Ich bin einfach erzogen worden. Gerade, offen, ehrlich.“ Später machte er eine Lehre als Bankkaufmann. Eigentlich wollte er nach seiner Spielerlaufbahn im Versicherungsbüro eines Freundes anfangen. Er sagte ab. Mit schlechtem Gewissen.
Er blieb stets authentisch, nahbar, mutig. Eben anders als die Anderen. Ein Typ, der heraussticht unter den ganzen Laptop-Philosophen. Seine Lebensplanung sah einen eher spießigen Bürojob vor. Jetzt ist er Bundesliga-Trainer. Hat was. „0:2. Man könnte dann auch denken: Da kommt keine Mannschaft mehr zurück. Aber wir halt schon, weil wir das so oft erlebt haben, weil wir so oft darüber reden und weil wir tolle Menschen haben, die nie aufgeben. Der 1. FC Heidenheim ist irgendwie unkaputtbar.“, lobte er seine Mentalitäts-Monster nach dem nervenzerfetzenden Aufstiegs-Szenario. In der Nachspielzeit den schon feiernden Hamburger SV doch noch in die Relegation gestürzt. Wahnsinn! Einen Tag brauchte die Klub-Ikone, um den Last-Minute-Irrsinn zu verarbeiten. Er selbst habe im Heidenheimer Stadion einst vor 250 Fans gespielt und ist heute Meister- und Aufstiegstrainer des FCH. „Das größte Geschenk.“
Heidenheim, die sympathische Alternative zur viel kritisierten Überkommerzialisierung im modernen Profifußball, den Debatten über zunehmende Entfremdung vieler millionenschwerer Stars. Heidenheim. Ganz im Stile der krassen Außenseiter Neunkirchen, Unterhaching oder Homburg, die mindestens zwei Spielzeiten im Konzert der Großen mitmischten, teilweise für mächtig Furore sorgten. Und wenn man am Ende nur in Erinnerung blieb, weil man auf der Brust für Kondome warb.
Ich habe am Pfingstmontag die Aufstiegsfeier des FCH im TV gesehen. Der SWR übertrug live. Die Veranstaltung war herrlich ehrlich. Ungekünstelt. Das Team nahbar. Die Funktionäre unprätentiös. Es wirkte ein bisschen wie die Party beim Freizeitverein auf dem Bolzplatz um die Ecke. Heidenheim, das fühlt sich an wie damals, als ich noch als Vorstopper bei Teutonia 5 über den Schotter grätschte. Der Reiz der Normalität. In der Ostalb wird er gelebt. Wo FCH drauf steht, ist auch noch ein Stück Kreisklasse drin. Der bunte Farbtupfer in der Glitzerwelt der Bundesliga. Ganz ohne millionenschwere Investoren, Brause- oder Was- für-auch-immer-Konzerne, sonstiges „Bling-Bling“ (Sanwald). Auf dem Hollywood-Boulevard des runden Leders nicht nur mitrollen, sondern das Pedal richtig durchdrücken. Mit Kampf. Leidenschaft. Willen. Das ist das Ziel.
Schalke, Hertha, Düsseldorf, Nürnberg. Große Namen, große Tradition, große Erfolge, große Ambitionen, doch oft auch eben so großer und selbstzerstörerischer Größenwahn. Und eine Klasse tiefer. Einige der Etablierten rümpfen vielleicht die Nase. Thema Verzwergung der Liga. Keine Strahlkraft. Kein Fanpotenzial. Na und? Ruft FCH-Chef Sanwald Skeptikern entgegen: „Da braucht man keine Diskussion führen, ob andere Vereine da hingehören. Sollen Sie doch versuchen, genauso erfolgreich Fußball zu spielen wie wir.“ Punkt! Ehrlicher Fußball. Ohne Allüren. Dafür mit ganz viel Emotionen. Fußball kämpfen – bis nichts mehr geht. Schmidt: „Wir wollen uns nichts ergaunern, sondern wir verdienen uns alles und arbeiten nachhaltig zusammen.“ Keine abgezockten Söldner, kein zusammengekaufter, sondern ein bis zum Platzwart durch und durch verschworener Haufen. Ich liebe solche Aschenputtel-Märchen.
Die Lichter der Kleinstadt: Idylle trifft Metropolis. Fußball wie in alten Zeiten. Weg von der perfekt duchgestylten Hochglanz-Inszenierung. Zurück zu den Wurzeln. Retro-Feeling. Mit Verstand. Seele. Herz. Bedacht. Sanwald: „Ich verstehe, dass es Verantwortliche bei größeren Vereinen da teilweise schwerer haben. Aber das darf nicht dazu führen, zu sagen: Nur diese Vereine haben eine Existenzberechtigung.“ Das Rezept im Schlaraffenländle ist einfach: „Schritt für Schritt. Stufe für Stufe.“ Organisch wachsen. Das ist der Heidenheimer Weg. Schaffe. Schaffe. Häusele baue. Kein Luftschloss. Ein Motto, das sich so mancher Gernegroß in die Vereins-Chronik schreiben sollte.
Foto: picture alliance / Eibner-Pressefoto / Roger Buerke
Ronald Toplak, geboren am 5. Februar 1965 in Berlin, ist seit über 30 Jahren im Sportjournalismus für verschiedene Hauptstadt-Medien tätig. 25 davon als Redakteur beim Berliner Kurier. Er schreibt – nach einer gesundheitlichen Auszeit – nun als freier Autor.