Marco Richter avanciert beim 2:0 von Hertha BSC beim FC Augsburg nach überstandener Hodenkrebserkrankung zum Matchwinner. In seiner Heimat. Vor seiner Familie. Ein hochemotionaler Moment. Auch für unseren Autor Ronald Toplak.
Hertha BSC hat gewonnen. Endlich. Aber Nebensache. Das 2:0 in Augsburg – nur eine Randnotiz. Viel wichtiger als der erste Saisonsieg, Punkte, oder der Blick auf die Tabelle: Marco Richter hat getroffen. Ein Märchen. Mit einem wunderschönen Happyend.
Vor der Abreise ins England-Trainingslager vor erst knapp eineinhalb Monaten wurde bei ihm beim Medizincheck ein Tumor im Hoden festgestellt. Schockstarre. Eine Krebsdiagnose kann mit einem Erdbeben der Stärke acht auf der Richterskala verglichen werden. Dies war bei Richter nicht anders. Ein junger Mann. 24. Fast noch ein Baby. Manchmal ist das Leben ein richtiges Drecksschwein. „Tumor. Krebs. Das ist heftig“, definierte Richter seine Gefühle. Aber er nahm den Kampf an, stellte sich dem Dämon. Offensiv. Wie es sich für einen Stürmer gehört. Und gewann. Er zeigte dem Schicksal die Faust. Grätschte den Teufel weg. Legte das Monster ab, wie eine schlechte Angewohnheit.
Das Comeback gab er schon gegen Dortmund mit einem fulminanten Latenkracher. Jetzt aber dieser Moment. In! Seiner! Stadt! In der er geboren wurde. Besser gesagt um die Ecke, in Friedberg, östlich von Augsburg. In dem Stadion, wo er seine ersten Schritte als Bundesliga-Profi machte. Beim Verein, wo er schon als Kind spielte. „Meine ganze Familie saß auf der Tribüne.“ Als er in der 69. Minute eingewechselt wurde, erhoben sich die Fans. Beider Seiten. Es gab keinen, der ihm dem Treffer in der Nachspielzeit nicht gönnte. Teamkollege Davie Selke hätte selbst verwandeln können, passte aber auf Richter. Dessen weit aufgerissene Augen das Glück hinausschrien, als er das Leder über die Linie schob. Anfang Juli wurde der bösartige Tumor operativ entfernt, eine Chemotherapie war nicht nötig. Es sei schwer gewesen, „nach so einer Diagnose den Kopf wieder hochzufahren“, berichtete Richter, aber nun sehe er sich auf „einem guten Weg“ – auch wenn in Bezug auf die Fitness „noch das ein oder andere Prozent fehlt“. Trotzdem: „Ich fühle mich gut.“ Dunkle Gedanken will er nicht „hochkommen lassen. Ich will Fußball spielen und Spaß haben.“ So wie am Sonntag. Schön. Einfach schön.
Krebs! Dieses Arschloch. Die Diagnose, ein Schlag in die Fresse. Sich aufzurappeln, nicht aufzugeben, das ist bewundernswert. Ich weiß nicht, wie ich in einer solchen Situation reagieren würde.
Die Erkenntnis, dass es Dinge gibt, die wirklich schlimm sind. Und dass man darüber auch mal traurig, verzweifelt und wütend sein darf. Ein ganz wesentlicher Teil von Resilienz. Sich seine eigenen Gefühle eingestehen zu können. Das gilt auch für Angehörige. Mein Vater bekam die Diagnose vor 26 Jahren. Prostata. „Ein halbes Jahr. Vielleicht!“, sagte mir der Arzt im Krankenhaus auf dem Gang. Es zog mir den Boden unter den Füßen weg. Traurigkeit. Warum er? Alles was bis dahin noch wichtig gewesen ist, war dahin. Ein unwirkliches Gefühl. Als ob man unter Wasser schreien würde. 1000 Gedanken schossen durch meinen Kopf. Etwa: Worüber redet man mit einem Menschen, der Angst hat zu sterben? Ich riss mich zusammen. Stärke zeigen. Auch für ihn. Ich sah ihn an. Seine Verzweiflung. Seine Ohnmacht. Aber auch seinen Willen. Ich! Gebe! Nicht! Auf! Es wurden eineinhalb Jahre. Er wollte unbedingt die Geburt seiner Enkelin erleben, freute sich so sehr darauf, Opa zu werden. Er schaffte es. Niemals werde ich das Bild vergessen, als er die Kleine in den Arm nahm. Sein mildes Lächeln. Er ruhte in sich. Zufrieden. Nur einen Monat später verstarb er. Er hatte keine Kraft mehr. Seitdem bin ich sensibilisiert, ist der Krebs immer da. Verfolge ich Betroffene mit anderen Augen.
Wenn ich meine Nichte anschaue, bin ich glücklich. Denn dann sehe ich auch meinen Vater. Der in ihr weiter lebt. Nele ist genauso alt wie Richter. Und leidenschaftlicher Hertha-Fan. Von mir geprägt. Im Sinne ihres Großvaters. Schon als kleines Mädchen nahm ich sie mit ins Olympiastadion.
Natürlich freute sie sich über die Genesung des Profis. Auch sie war erfasst, von diesem besonderen Moment, dieser 93. Minute, als der Stürmer traf. Mitten ins Herz. Uns alle!
Du weißt nie, wie stark du bist, bist du nur noch die Wahl hast, stark zu sein. Wer aus seiner Bahn geworfen wird, meint manchmal, dass alles verloren ist. Marco Richter hat das Gegenteil bewiesen. In Wirklichkeit hat etwas Neues begonnen. Er ist Kämpfer. Hoffnungsträger. Mutmacher. Krebs betrifft uns alle. Denn Glück allein ist, wenn man gesund ist. Und die, die wir lieben, auch! Nichts anderes zählt. „Der Weg ist das Ziel“, sagte Pierre Pagé, ehemaliger Erfolgs-Trainer des Deutschen Eishockey-Meisters Eisbären Berlin, gebetsmühlenartig. Richtig! Was er meinte: Stark kann nur der sein, der auch mal schwach sein darf. Wichtig ist nur, dass es morgen weitergeht. Ob es regnet, bestimmt man nicht selbst, aber wie man den Regen bewertet, das schon.
Bleibt mir als Fazit noch zu sagen: Geht zur Vorsorge! „Je früher, desto besser“, wie Richter auf Instagram postete. Früherkennung kann Leben retten!
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Ronald Toplak, geboren am 5. Februar 1965 in Berlin, ist seit über 30 Jahren im Sportjournalismus für verschiedene Hauptstadt-Medien tätig. 25 davon als Redakteur beim Berliner Kurier. Er schreibt – nach einer gesundheitlichen Auszeit – nun als freier Autor.