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Ich bin verflucht. Von der Furia Roja!

„Ayuda! Estoy maldito!“ Halt. Stopp. Eigentlich wollte ich von meiner Jugendfreundin Isabella erzählen. Aber dazu später. Denn ich bin noch viel zu aufgeregt. Ich nehme den Kaffee intravenös zu mir. Nach schlaflosen Nächten. Elfmeter? Oder nicht? Die 1:2-Niederlage der deutschen Nationalmannschaft im EM-Viertelfinale gegen Spanien lässt mich nicht los. Ich kann nicht verstehen, warum der Flügelschlag eines Schmetterlings gegen Dänemark zum Strafstoß führte. Dagegen ein Schuss von Jamal Musiala, der seinem Gegenspieler Marc Cucurella fast die Hand brach, nicht sanktioniert wurde. Die Pfeife von Schiedsrichter Anthony Taylor (England) blieb stumm. Regelidiotie. Ich will nicht sagen, dass die DFB-Elf am Ende gewonnen hätte. Aber ein  Treffer hätte die Statik des Spiels maßgeblich verändert. 

Isabella

Eine Auflösung der Szene gab es nicht. VAR eine verpasste Chance, jede Diskussion im Keim zu ersticken. Stattdessen Funkstille. Abgetaucht. Ohne Worte. „Transparenz“ forderte Markus Merk, immerhin dreimaliger Welt-Schiri. Bundestrainer Julian Nagelsmann weinte auf der Abschluss-Pressekonferenz. Sympathisch. Menschlich. Nahbar. So ein Aus hatte diese Truppe, die nach Jahren der Tristesse den Glauben an Erfolg zurückgebracht hat, nicht verdient. Mich beeindruckte, wie reflektiert und respektvoll  das Ausscheiden bewältigt wurde. Enttäuschung? Ja! Wut? Nein! Mit Stolz und Demut verabschiedete man sich aus dem Turnier. Bemerkenswert fair. Durch die Vordertür. Erinnerte alles ein wenig an Wembley 1966. Richtig so! Schluss mit frustig. Jede weitere Aufregung? Unnötige Energieverschwendung! Abhaken. Noch ne Kanne schwarzes Gold. Damit ich, nach langem Vorlauf, endlich ausführen kann, warum ich von der Furia Roja verflucht bin.  Nicht der Schiri ist der Buhmann, sondern ich. 

Deutschland gegen Spanien. Das ewige Duell. Der letzte Sieg einer DFB-Elf über die Iberer ist lange her. Sehr lange. Ewig lange. Genauer gesagt 36 Jahre. Auch damals war Heim-EM. In der Gruppenphase ging es in München gegen die Iberer. 17. Juni 1988: Tag der deutschen Einheit. Im Westen. Die Mauer stand noch. Das Internet war noch nicht erfunden. Torwart Manuel Neuer süße zwei Jahre jung. 

Isabella hatte uns eingeladen. Uns. Eine Horde von Rotzlöffeln. Sagten viele. Ich formuliere es freundlicher: liebenswerte Chaoten. Sie lebte noch bei ihren Eltern. Ihre Mutter ist Spaniern. Eine Frau wie eine Kuscheldecke: voller Liebe, Wärme und Geborgenheit. Bella wuchs zweisprachig auf. Oft besuchte sie die Verwandtschaft in Katalonien. Sie bewirtete uns mit der traditionellen Küche Tarragonas. Diese ist barfuß und riecht nach Meer. Es gab Paella mit dem typischen schwarzen Reis. Tapas. Orelletes de Tarragona, fritierte Süßigkeiten in Form von Ohrmuscheln. Und  „Calçot”, eine lang gewachsene Frühlingszwiebel, die in Romescosauce getunkt wird. Unglaublich lecker.

Dazu positionierte sie sich: „Ich bin für Spanien!“ 2:0 stand es am Ende. Rudi Völler erzielte beide Treffer. Ausgerechnet. Zuvor war er 636 Minuten ohne Tor geblieben. „Hi. Ha. Ho. Spanien ist K.o.!“ Anstatt aus purer Dankbarkeit höfliche Zurückhaltung zu zeigen, übergossen wir das arme Mädchen mit Hohn und Spott. Gentlemen verhalten sich anders. Wir waren nachpupertierende Flegel. Ich schäme mich noch heute. Bella ließ sich nichts anmerken. Im Gegenteil. Mit mildem Lächeln servierte sie Ensaïmadas, mit Puderzucker bestreutes Schmalzgebäck. Unserer Freundschaft tat dies keinen Abbruch. Aber seitdem lastet auf meinen Kumpels und mir ein Fluch. Vieles hat sich seitdem geändert. Wir sind keine ungeschliffenen Schnösel mehr. Und der Nationalfeiertag ist mittlerweile der 3. Oktober.

Was nicht geschehen ist: ein erneuter Pflichtspielsieg des DFB-Teams gegen Spanien. Oft war es knapp, aber immer bitter: das verlorene EM-Finale 2008, die Niederlage im WM-Halbfinale 2010. Jetzt der nächste Nackenschlag. Der spanische Nachtmahr verwandelt regelmäßig deutsche Titel- in Alpträume.  Stoff für einen Grusel-Schocker bei Netflix. Was tun? Ein spanisches Trikot kaufen? Die Furia Roja anfeuern? Mit Bella? Wir haben uns mit den Jahren aus den Augen verloren. Sie zog es beruflich nach Moskau. Aktuell lebt sie in Hamburg. Ich nahm den Hörer in die Hand. „Cómo le va? Cuánto tiempo sin oírte!“ Die Freude war groß. „Mein Sohn konnte gar nicht verlieren. In seiner Brust schlagen zwei Herzen“, lachte sie. „Estoy maldito. Por la furia roja“, klagte ich. Spontan haben wir beschlossen, das Halbfinale gegen Frankreich gemeinsam zu schauen. Auf ein paar Tapas an die Elbe. Hat was. War schon länger nicht mehr da. Viva España! Vielleicht finde ich so Erlösung, wird mir Absolution erteilt.