Unser Autor Ronald Toplak über den Tod von Kaiser Franz Beckenbauer. Deutschlands vielleicht größter Fußballer aller Zeiten ist mit 78 Jahren verstorben.
12. Juni, 1993. Gerade hatten die Hertha-Bubis das DFB-Pokalfinale gegen Bayer Leverkusen verloren. Ich war auf Stimmenfang. Da sah ich Franz Beckenbauer. Vor Ehrfurcht bebend trat ich vor ihn. Seine Ausstrahlung blendete. Gerade als ich zu meiner Frage ansetzte, herrschte neben mir Riesenaufregung. Franzi van Almsick drängte vorbei. Damals die ganz große Nummer. Beckenbauer bemerkte mein Dilemma. „Lauf, Junge“, sagte er milde lächelnd, „mich bekommst du auch später noch!“ Was auch klappte.
Gänsehaut. Es bleibt einer der eindrucksvollsten Momente meiner Karriere. Was ich damit sagen will? Er war nie abgehoben. Freundlich. Charmant. Humorvoll. Einfach ein Mensch, der trotz aller Erfolge am Boden blieb. „Du darfst nie vergessen, wo du herkommst“, hat er einmal gesagt. Jetzt ist er verstorben. Mit 78 Jahren. Der Kaiser. Der Weltmeister. Als Spieler 1974 und Teamchef 1990. Damit zählt er zu einem illustren Kreis. Als Funktionär holte er zudem das Sommermärchen nach Deutschland. Für mich ist er der Allergrößte.
Sicher, ich war besorgt, wenn man in letzter Zeit Meldungen über seinen Gesundheitszustand las. So schlimm, dass ich mich fast genötigt fühlte, einen Nachruf vorzuempfinden. Aber so etwas widerstrebt mir total. Ich hoffte. Vergebens. Die Dokumentation in der ARD am Abend schaute ich nicht an. Ich ging stattdessen spazieren. In Gedanken an eine Ikone.
Die Lichtgestalt. Ausgeknipst. Einfach so. Dabei ließ er seine Umgebung erstrahlen. Sogar den Ball, den er trat. Mit einer virtuosen Leichtigkeit, die neidisch machte. Beckenbauer faszinierte durch eine fast schwebende Spielweise. Er arbeitete nicht auf dem Platz, er regierte. Schweißlos. Sein Trikot war fast nie dreckig. Das Kicken hatte er sich wie alle Straßenfußballer selbst beigebracht. Was hätte ich dafür gegeben, nur einen Bruchteil seines Talents zu besitzen. Meine Fähigkeiten auf dem grünen Geläuf reichten nur zum Grobmotoriker. Trotz intensiven Übens. Schon oft habe ich darüber geschrieben. Niemand hat widersprochen. NIEMAND. Das tut weh. Weil es die Wahrheit ist. Leider.
Er dagegen konnte mit seinen Füßen Äpfel schälen. Wenn er den Ball streichelte, ging ein Raunen durch die Massen, wie ich es selten erlebt habe. Atemlose, ungläubige Faszination. Wie etwa beim Antritt von Ronaldo, den geschmeidigen Bewegungen eines Johan Cruyffs, dem Zauber eines Peles, der Kunst eines Maradonas, der Dynamik eines Lothar Matthäus oder dem Genie eines Lionel Messis. Oft habe ich mit Kollegen und Freunden darüber diskutiert, wer denn nun der beste Kicker aller Zeiten wäre. Selten fiel die Antwort „Beckenbauer“. Ich dagegen bestand darauf. In Endlosschleife. Was rede ich aber auch mit diesen Leuten? Sie haben ihn zumeist nie live spielen sehen. Ich schon. Erstmals kurz vor meinem 10. Geburtstag im Olympiastadion am 1. Februar 1975. Vor fast 50 Jahren. Das wird mir beim Schreiben dieser Zeilen bewusst.
Schon nach neun Minuten verkündete der Stadionsprecher: „1:0 für Hertha, Torschütze Lorenz Horr“, aber Beckenbauer wird ihn später korrigieren: „Das war leider ein Eigentor von mir.“ Hertha BSC siegte mit 4:1. Dieser Erfolg ist bis zum heutigen Tag der höchste Sieg meines Herzensklubs gegen die oft übermächtigen Bayern geblieben. Das macht ihn auch so besonders. Kurios war zudem, dass in Dettmar Cramer ausgerechnet jener Trainer bei den Bayern im Amt war, der zu Saisonbeginn von Hertha verpflichtet worden war, aber schon am Tag seiner Vorstellung den Vertrag wieder auflöste. Das Pfeifkonzert gegen „Napoleon“ klingt mir noch immer in den Ohren.
Zu ungefähr dieser Zeit las ich mein erstes richtiges Buch. Die „Drei Fragezeichen“, „Pitje Puck, der lustige Briefträger“ oder Werke von Otfried Preußler mal ausgenommen. Mein Vater hatte es mir geschenkt. Als Belohnung für eine gute Mathe-Arbeit. Das kam nicht wirklich oft vor. Es war die inzwischen mehrfach aktualisierte Biographie Beckenbauers. „Einer wie ich“, ich habe das Original heute noch.
Fasziniert tauchte ich in sein Leben ein. So zum Beispiel, als er mit den Bayern gegen Dynamo Dresden im ersten deutsch-deutschen Duell auf internationaler Ebene aufeinandertraf. Die politisch aufgeladenen und spektakulären Spiele im Europapokal der Landesmeister boten auf und neben dem Platz zahlreiche Anekdoten und Geschichten. Dort traf Franz zum Beispiel auf den „Beckenbauer des Ostens“, besser bekannt als „Dixie“ Dörner, auch wenn der diesen Vergeich nicht mochte. Nicht wenige sagen dennoch, er war genauso gut. Immerhin Olympiasieger. Das hatte nicht einmal der Kaiser geschafft. Andere Geschichte.
Ich verschlang das Buch in einem Zug. Nur ein paar Monate zuvor hatte ich mit meinem Vater den WM-Triumph 1974 gegen die Niederlande verfolgt. Begeistert stand ich nach dem Schlusspfiff auf dem Balkon, jubelte mit meiner kleinen Deutschland-Fahne. Sie können mich aus dem Tiefschlaf wecken. Immer noch kann ich die Aufstellungen, Einwechslungen und Torschützen aufsagen. Es war die erste WM, die ich voll bewusst mitbekam.
Es wäre müßig, hier über alle Erfolge Beckenbauers zu schreiben. Er erfand den Libero. Als Abwehr-Boss konnte er glänzen, aber auch ein entspanntes Leben führen, die anderen die Drecksarbeit machen lassen. Wie seinen Abräumer Katsche Schwarzenbeck. Generationen versuchten sich im DFB-Team auf dieser Position. Vergeblich. Matthias Herget kam dem Kaiser in seiner Spielweise wohl am nächsten. Erreicht hat ihn keiner. Nur ihn verehrte die Welt. Wo Beckenbauer war, war oben. Immer. Am Ende aber fiel im Zuge von Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe zur WM 2006 ein Schatten auf seine Lebensleistung. Das hatte er nicht verdient. Finde ich. Denn die Welt hatte ein neues Deutschland kennengelernt. Ein friedliches, sympathisches, fröhliches Land. Eines, das sich wieder selbst mochte. Mehr Verdienst geht nicht. Die Vorwürfe taten ihm weh. Er zog sich aus der Öffentlichkeit zurück. Nicht nur aus gesundheitlichen Gründen. Er wird mir fehlen. Fast wie ein Familienmitglied. Irgendwie war er fast mein ganzes Leben omnipräsent. Plötzlich ist er nicht mehr da. Fußball-Deutschland ohne Kaiser Franz, das muss ich noch verarbeiten. Wie? Schaun mer mal!
Jetzt bildet er woanders ein Dream-Team. Gemeinsam mit Pele, mit dem er schon bei Cosmos New York kickte, Maradona oder Bobby Charlton. Und Dörner, der vor zwei Jahren von uns gegangen ist. Das hätte was. Vor allem aber mit seinen kongenialen Partnern Uwe Seeler und Gerd Müller, die er mit grandiosen Pässen füttert. Mit Effizienz und Eleganz. Wie nur er es kann. Locker aus dem Fußgelenk. Mit Effet über den ganzen Platz. Wie an der Schnur gezogen. Genau auf die Töppen seiner Mitspieler. Ich würde mir allein beim Versuch die Knochen brechen. Wenn diese Heroen des runden Leders den himmlischen Rasen betreten, verneigen sich die Grashalme. Franz Beckenbauer ist ein Stück deutsches Kulturgut. Der Beste. Der Kaiser. Der Allergrößte. Eben eine Lichtgestalt. Einen wie ihn wird es nicht mehr geben. Aber: Die Legende lebt. Ewig. Ihre Majestät, ich verneige mich.
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Ronald Toplak, geboren am 5. Februar 1965 in Berlin, ist seit über 30 Jahren im Sportjournalismus für verschiedene Hauptstadt-Medien tätig. 25 davon als Redakteur beim Berliner Kurier. Er schreibt – nach einer gesundheitlichen Auszeit – nun als freier Autor.