Uwe Seeler ist tot. Ich war geschockt, als ich die Meldung las. Er verstarb mit 85 Jahren friedlich im engsten Familienkreis.
Dieser Mann war immer da. Für mich so etwas wie die personifizierte Ewigkeit. Mythos. Ikone. Kult. Eine meine ersten Erinnerungen im Fußball ranken sich um die Legende. 1970. Bulgarien. Meine Familie und ich machten Urlaub am Sonnenstrand. Ich war 5 Jahre alt. Zu dieser Zeit fand die WM in Mexiko statt. Natürlich bekam ich mit, dass sich mein Vater die Spiele anschaute. Ohne mich. Dafür war ich einfach zu klein. Aber ich flehte. Quängelte. Bettelte. Bis irgendwann meine Mutter milde meinte: „Nimm ihm doch mit, wenn er so gerne möchte.“ Mein Vater erbarmte sich schließlich des nervenden Zwerges. Er nahm mich an die Hand. Es ging in einen Aufenthaltsraum des Hotels. Dort war ein großer Fernseher aufgebaut. An viel kann ich mich nicht mehr erinnern. Nur an viele große, sehr aufgeregte Männer mit Bart. Und das es das legendäre Viertelfinale gegen England war. Beim 3:2-Sieg der Nationalmannschaft gegen England war Seeler mit dem Hinterkopf erfolgreich. Das letzte seiner 43 Länderspieltore. Sein berühmtestes. Mein Vater hob mich begeistert in die Luft. Wie einen Pokal. Dies tat er damals immer, bei wichtigen Treffern. An jenem 14. Juni vor 52 Jahren trug Seeler so entscheidend dazu bei, dass das DFB-Team bei der WM-Endrunde nicht nur den Titelverteidiger ausschaltete, sondern auch ins Halbfinale gegen Italien vordrang, das bis heute als „Jahrhundertspiel“ gilt. Beim Gang auf das Spielfeld hatte er vier Jahre nach dem Trauma des verlorenen WM-Endspiels 1966 in London gegen das Mutterland des Fußballs den Erzrivalen klar gemacht: „No chance, today is our Wembley.“ Das ist verbürgt.
Seeler blieb für mich ein Idol. Von dem ich für mein Leben lernte. Zum Beispiel, was Rasierwasser ist. Ich erstarrte in Ehrfurcht, als ich ihn beruflich kennenlernte. War gar nicht nötig. Er machte es mir leicht. Dieser Mann war so, wie er immer beschrieben wurde. Bodenständig. Höflich. Freundlich. Seine Ausstrahlung umarmte die Menschen. Ein Mann des Volkes. Vier Weltmeisterschaften, Ehrenspielführer der Nationalelf – und Held zum Anfassen. Vor allem in Hamburg. Von 1946 bis 1972 trug er das Trikot des HSV. Er widerstand allen finanziellen Verlockungen aus dem Ausland. Angebote gab es genug. Später war er auch Präsident der Hanseaten. Heimatverbundenheit und Vereinstreue zeichneten ihn aus. Identifikationsfigur pur. Weltmeister war er nie. Was aber seiner Vita keinen Abbruch tat.
Er war Superstar. Populär. Aber dennoch entwaffnend normal. So zum Beispiel, als ich ihn am Berliner Hauptbahnhof zufällig erblickte. Er stand auf der Rolltreppe. Es dauerte nicht lange, da wurde er erkannt. Sofort bildete sich eine Traube um Seeler. Der geduldig jeden Autogrammwunsch erfüllte. Selbst die neumodischen Selfies. Diese herzliche Natürlichkeit machte ihn so beliebt. Allüren waren ihm fremd.
Jetzt ist er nicht mehr da. Er hinterlässt eine Lücke, wie es vor ihm vielleicht nur Fritz Walter getan hat.
Ich habe noch eine unterschriebene Original-Autogrammkarte aus den 70er-Jahren, die mir einst mein älterer Cousin geschenkt hat. Darauf bin ich stolz. Ich habe sie auf den Couchtisch gestellt. Daneben eine Kerze. In tiefer Trauer. Um einen der größten Fußballer, die Deutschland jemals hatte. „Ich bin stinknormal. Und das gefällt mir.“ So beschrieb er sich selbst. Authentizität. Demut. Bescheidenheit. „Mein Leben war wunderbar.“ Die junge Generation kann viel von diesem Mann lernen. Er war Vorbild. Einer von uns. Uns Uwe. Ruhe in Frieden.
Bild: picture alliance / SvenSimon
Ronald Toplak, geboren am 5. Februar 1965 in Berlin, ist seit über 30 Jahren im Sportjournalismus für verschiedene Hauptstadt-Medien tätig. 25 davon als Redakteur beim Berliner Kurier. Er schreibt – nach einer gesundheitlichen Auszeit – nun als freier Autor.