Dass man alt wird, merkt man daran, wenn immer mehr Helden der eigenen Jugend gehen. Andreas Brehme ist tot. Herzstillstand. Mit nur 63 Jahren. Der Mann, der Deutschland 1990 im Finale von Rom gegen Argentinien per Elfmeter zum Weltmeister machte. Ein Schuss für die Ewigkeit. In der ewigen Stadt.
„Jaaa. Tooooor für Deutschland“, jubelten Gerd Rubenbauer und Karl-Heinz Rummenigge als Kommentatoren im TV. Relativ nüchtern, wie ich damals befand. Es passte so gar nicht zur allgemeinen Euphorie. Die Mauer war gefallen. Weltmeister! Wiedervereinigung! Wir! Die Alliteration dieser Zeit. Ein Land im kollektiven Freudentaumel. So ganz anders als heute. Gefühlt lag man sich sekündlich mit irgendeinem anderen Menschen in den Armen. Glücksrausch ohne Ende. Ein einziges schwarz-rot-goldenes Jubelmeer, eine Rundum-Fete. Alles passte einfach. Leben. Lachen. Freude machen. Vor allem auch für die Menschen aus der ehemaligen DDR. Die Grenze ging auf, sie durften nach Rom und als Krönung gewann das Team den Titel. Das ist auch heute noch für viele unbeschreiblich.
Es lief die 85. Minute des Endspiels, als Rudi Völler im argentinischen Strafraum danieder sank. „Er gibt Elfmeter. Er. Gibt. Elfmeter!“ Rubenbauer war fassungslos. Ich auch. Ein Geschenk. Das vermeintliche Vergehen von Roberto Sensini war mehr ein Schwächeanfall des deutschen Stürmers. Egal. Brehme übernahm den nationalen Auftrag, weil Kapitän Lothar Matthäus nicht wollte. Nach einer Viertelstunde war ein Stollen gebrochen, später die ganze Sohle. Zentimeter neben dem Pfosten landete der Ball im Tor. „Hier ging es nicht um persönliche Eitelkeiten, sondern um uns, um die Mannschaft – und um eine ganze Nation“, erklärte Brehme später pathetisch das Tor zur Einheit.
An diesem Abend schien alles etwas größer zu sein als sonst: Der Jubel, meine Aufregung vor dem Fernseher – und – da bin ich mir heute sicher, auch die Pizza, die wir bestellt hatten. Die Tifosi fieberten nämlich mit uns. Vor allem, weil in der DFB-Elf Italien-Legionäre den Ton angaben. Wie Brehme, der für Inter Mailand gemeinsam mit Matthäus und Jürgen Klinsmann kickte. Die Serie A war damals das Maß aller Dinge. Wir schauten im Fetenkeller meines Freundes Armin.
Während meine Kumpels feierten, verdiente ich mir im Anschluss meine ersten beruflichen Sporen. Stimmenfang in den anlassbedingten Korsos der Stadt für die Zeitung mit den vier Buchstaben. Brehme. Brehme. Immer wieder Brehme. Enthusiastisch gebrüllt. Oder leise unter Tränen gehaucht. Die Aussagen auf meinem Notizblock kulminierten in einem personifizierten Glückshormon der Befragten, das ich in die Redaktion durchgab. Ich hatte Mühe, mich verständlich zu machen. Immer wieder wurde die Tür meiner Telefonzelle aufgerissen. „Weeeltmeiiistaaa!“ „Andyyy!“ Teamchef des DFB war damals Franz Beckenbauer. Anfang dieses Jahres hatte Brehme der Tod seines Freundes und Mentors tief getroffen. Mitte Januar nahm er noch an der Trauerfeier in München teil.
Der gebürtige Hamburger begann seine Profikarriere 1980 beim 1. FC Saarbrücken, ehe er ein Jahr später zum 1. FC Kaiserslautern ging, wo Brehmes Stern aufging. Der Außenverteidiger spielte danach für den FC Bayern, Inter Mailand und Real Saragossa, ehe es ihn 1993 nach Kaiserslautern zurückzog. Unvergessen ist natürlich das legendäre Bundesliga-Abstiegsfinale 1996. FCK oder Leverkusen. Brehme oder Völler. Eine der beiden Legenden musste den Gang in die Zweite Liga antreten. 1:1 hieß es am Ende. Es erwischte erstmals die Pfälzer. Andy heulte herzerreißend im TV vor einem Millionenpublikum Rotz und Wasser. In den Armen seines ihn tröstenden Freundes Rudi – und schämte sich seiner Tränen nicht.
Nein, so konnte Brehme nicht aufhören. Was folgte, war dann ein Märchen, das sich Hollywood nicht besser hätte ausdenken können. Zwei Jahre wie im Rausch, eine nicht endende Euphoriewelle auf und neben dem Platz. Zwischen Hölle und Himmel. Sowas von. Nur eine Woche später holte der FCK in Berlin gegen den Karlsruher SC im Olympiastadion den DFB-Pokal. Ich war live dabei. Als Reporter. Ich sah Brehme auf der Siegerparty wieder lachen. Hand in Hand mit seiner damaligen Frau Pilar. Ein schillerndes Paar. Aber es kam noch besser. Happyend in Dauerschleife sozusagen. Es gelang nicht nur gemeinsam mit meinem Herzensverein Hertha BSC die Rückkehr in Liga 1, sondern in der Saison darauf 1998 sogar die Meisterschaft – als Aufsteiger. Das Wunder vom Betze. Betzer geht es nicht.
Stimmig, mit der ihm eigenen Syntax, sagte Brehme: „Ja gut, ich sach ma, es war eine schöne Zeit. Und jetzt, ich sach ma , ist Schluß.“ Das würdige Ende einer grandiosen Laufbahn. Jetzt schießt er im Himmel die Elfer. Abgezockt. Knallhart. Beidfüßig. Was ihn schon immer auszeichnete. Beckenbauer wird es freuen. Denn der Kaiser adelte seinen am Ball genialen Musterschüler schon als Teamchef: „Der Andy ist der perfekteste Fußballer, den wir haben.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Foto: picture-alliance / dpa | Frank Kleefeldt
Ronald Toplak, geboren am 5. Februar 1965 in Berlin, ist seit über 30 Jahren im Sportjournalismus für verschiedene Hauptstadt-Medien tätig. 25 davon als Redakteur beim Berliner Kurier. Er schreibt – nach einer gesundheitlichen Auszeit – nun als freier Autor.