Ich hatte es schon euphorisch vorempfunden. Oh, wie ist das schön! Leo Neugebauer ist Weltmeister im Zehnkampf. König der Athleten. Zu früh gefreut. Der Löwe aus der Lausitz stürzte nach einem atemberaubenden ersten Wettkampf-Tag und sensationeller Führung ab. Platz 5. Top-Leistung. Sicher. Aber sinnbildlich. Keine Medaille bei den Leichtathletik-WM in Budapest. Nullnummer! Nichts! Nada! Niente! Das gab es noch nie. Ein historischer Tiefpunkt. Mehr Debakel geht nicht. Krise. Krise. Krise. Wo man hinschaut. Der deutsche Spitzensport hat fertig.
Am Ende waren alle Blicke auf Julian Weber gerichtet. Aber auch der Speerwurf-Europameister scheiterte am Schlusstag mit dem Versuch, die Ehre des deutschen Teams zu retten. Platz 4 für den Mainzer. Letzte Chance verpasst. Der DLV als mitgliederstärkster Verband der Welt nicht im Medaillenspiegel aufgeführt, im Gegensatz zu Barbados, Burkina Faso oder den Jungferninseln. Das ist, man muss es so knallhart formulieren, eine Schande.
Total-Versagen. Ein leider gewohntes Bild für Aktive im Nationaltrikot. Fußball. Schwimmen. Leichtathletik. Ich könnte endlos weiter aufzählen. Deutschland im Sport eine Top-Nation? Erste Adresse? Talent-Schmiede? Das war einmal. Die einst erfolgsverwöhnten Athletinnen und Athleten sind im Wettbewerb um Edelmetall meist nur noch Zaungäste. Absturz total. Verheerende Bilanzen. Von der Konkurrenz gedemütigt. Blech ist das neue Gold. Wie sagt man: Ein freundliches Antlitz rührt den Spiegel nicht. Er sagt dir die Wahrheit ins Gesicht. Ein Albtraum ohne Erwachen.
Stattdessen Durchhalteparolen. Entschuldigungen. Schönrederei. Wie gerade in den Tagen von Budapest erlebt. Das, entschuldigen Sie die Wortwahl, kotzt mich an. Den katastrophalen Gesamt-Eindruck kann auch der junge Zehnkampf-Hoffnungträger Leo „Löwenherz“ Neugebauer aus Görlitz nicht kaschieren. Bezeichnend, dass der 23-jährige Shootingstar an der University of Texas in Austin (USA) trainiert und geformt wird. Er wird gewinnen. Irgendwann. Wenn er die Nerven in den Griff bekommt. Das schafft er, da bin ich mir sicher. Gehört zum Lernprozess. Alles eine Sache der Erfahrung.
Ein Ausreißer im kulminierten Negativ-Trend. Wo schon die Teilnahme an einem Halbfinal-Lauf als Triumph zelebriert wird. Dass die Athlet*innen dort in schöner Regelmäßigkeit abgehängt werden, wird ignoriert. Das Scheitern. Die Niederlage. Das Aus. „Aber mit persönlicher Bestleistung“, flöteten Aktive und Trainer fröhlich strahlend in die Mikros. Kein Hadern mit dem Schicksal. Kein Zweifeln ob der Situation. Kein Frust bezüglich der Enttäuschung. Augenroll! Hallo? Geht’s noch? Solche Reaktionen sind eine Bankrott-Erklärung. Außer Spesen nichts gewesen. Beim Zieleinlauf der meisten DLV-Athleten und Athletinnen war selbst die erweiterte Weltspitze schon Kaffee holen. Stellvertretend sei Gina Lückenkemper genannt, die hochgelobte Europameisterin über 100 m. Nach ihrem – zugegeben – fantastischen Lauf bei den Europameisterschaften im vergangenen Jahr in München, gab es einen gigantischen Hype. Die Sprinterin vom SCC Berlin wurde als Sportlerin des Jahres ausgezeichnet. Sie wollte ins Finale. Unbedingt. Als erste deutsche Athletin seit Melanie Paschke 1998. Pustekuchen! Traum geplatzt.
Nach einer starken Saison lieferte sie ausgerechnet beim Höhepunkt die beiden langsamsten Rennen des Jahres ab. Klägliches Ausscheiden im Halbfinale. In einer Zeit (11,18), mit der sie im US-Team nicht einmal als Wasserträgerin mitmachen dürfte. Sie bräuchte ein Fernglas, um die neue Queen des Sprints Sha’Carri Richardson aus Dallas (10,76) zu sehen. Was folgte, war eine Litanei an Ausreden. Locker, als ob man sie gerade nach einem Konzert ihrer Lieblingsband getroffen hätte: „Der Rücken“, zwickte. „Es war für mich eine extrem lange Saison, ich bin im Februar mit der Hallensaison gestartet. Vielleicht müssen wir für nächstes Jahr gucken, dass wir das ein bisschen drosseln und ein paar Rennen weniger machen, denn die Rennen waren ja bis hierher alle qualitativ sehr hochwertig“, sagte sie entschuldigend. Der durchaus beachtenswerte 6. Platz in der Sprint-Staffel war Schadensbegrenzung. Ein bisschen.
Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus! In Dauerschleife. Bei globalen sowie kontinentalen Wettbewerben. Das ist inzwischen Routine. Fasungslosigkeit etwa bei Joshua Hartmann. Einer der wenigen Hoffnungsträger in Ungarn. Mit 20,02 Sekunden hatte der Kölner bei den Deutschen Meisterschaften die 18 Jahre alte Bestmarke (20,20) von Tobias Unger über 200 m geradezu pulversiert. Die Erwartungen waren hoch. Doch der Himmelsstürmer krachte unsanft auf den Boden der Tatsachen. Platz 4 im Vorlauf. Verzockt. Ende. „Das ist eine WM. Es gehört offenbar mehr dazu, als im Vorfeld einmal schnell zu laufen“, sagte der 24-Jährige schwer ernüchtert. Wohl wahr. Es kam sogar noch schlimmer. In der ambitionierten 4×100-m-Staffel ließ er den Stab fallen. Die anvisierte Wiedergutmachung landete im Staub. Eiskalte Dusche bei hochsommerlichen Temperaturen in der altehrwürdigen Magyaren-Metropole. „Es ist einfach blöd jetzt. Ich habe meinen Job nicht gemacht und das ist sehr, sehr schade für das Team“, sagte Hartmann nun.
Fakt ist, dass Deutschland inzwischen nicht nur in der Leichtathletik zum Entwickungsland mutiert.
Ehrlich, ich habe keinen Bock mehr, beim Verlieren zuzuschauen. Sicher, ich kann mich auch über Erfolge und Rekorde von Sportler*innen aus anderen Nationen freuen. Es macht mir aber deutlich mehr Spaß, wenn sie ein Leibchen mit dem Bundesadler tragen.
Ansehen und Schlagkraft sind verloren gegangen.
Zurück zum DLV. Nie stand der Verband so schlecht da. Selbst die Werfer*innen, die das Ergebnis-Desaster oft übertünchten, sind keine zuverlässige Macht mehr. Das mit viel Vorschusslorbeer angereiste Diskustrio Kristin Pudenz (65,96 m), Shanice Craft (65,47 m) und Claudine Vita (63,19) musste sich mit den Plätzen sechs, sieben und zehn zufriedengeben.
Ja, es gab in der deutschen Leichtathletik wunderschöne Zeiten. Auch nach der Wiedervereinigung, in denen Fans und Reporter in Medaillen badeten. Vergangenheit. Das Jubelmeer ist trocken gelegt. Eine Party-Pfütze. Was früher Gold, Silber oder Bronze waren, sind heute die Finalteilnahmen. Wenn überhaupt. Beschämend.
Die Produktion in Sachen Edelmetall stockt allerdings seit Jahren. Weltklasse sind viele „Stars“ nur in den Sozialen Medien. 400-m-Model Alica Schmidt hat zum Beispiel 3,7 Millionen Follower auf Instagram, zeigt auf dieser Plattform aber eine deutlich bessere Performance als auf der Tartanbahn.
Man darf kein Lorbeerblatt mehr vor den Mund nehmen. Blamage reicht als Titulierung der Aktiven eigentlich nicht aus. Peinlich trifft es eher. Die kleinen Niederlande, die Skandinavier oder die Schweiz machen dem schwerfälligen DLV vor, wie es gehen kann. Mit innovativen, schlanken, vor allem effektiven Strukturen. Sowohl im finanziellen als auch trainingsmethodischen Bereich. Oft sogar mit der Expertise deutscher Spezialisten, weil die Bezahlung im Ausland deutlich besser ist. Längst regnen dort die Medaillen.
Die findet man beim DLV, wenn man nicht aufpasst, bald nur noch beim Stöbern in alten Chroniken. In der allerhöchsten Not werden Stars im TV kurzerhand vereinnahmt. Wie der griechische Weitsprung-Zeus Miltos Tentoglou, dessen Vater Georgios in Niedernhausen ein Restaurant betreibt. „Der Bub ist in Griechenland gebore und dort aufgewachse.“ Ist den Moderatoren angesichts von Flops am Fließband völlig egal. Wenigstens ein bisschen Glanz abbekommen. Man sonnt sich im helenischen Gold, das vom Olymp auf die hessische Provinz nahe Wiesbaden strahlt, verpasst ihm einfach einen deutschen Anstrich. Weil der auf dem Penelopes mythisch vergötterte Held im Rheingau-Taunus-Kreis oft in den Ferien zu Besuch ist.
Der DLV bräuchte dringend eben solche Helden, um das angeschlagene Image aufzupolieren. Nur ein Löwe aus der Lausitz reicht nicht. Sei er auch noch so sympathisch. Der Junge macht zwar richtig Spaß. Aber nur ein kommender Champion in der Tristesse ist zu wenig. Weitsprung-Olympiasiegerin Malaika Mihambo lassen wir als Erfolgs-Lieferantin diesmal außen vor. Die Überfliegerin fehlte an der Donau verletzt.
Man hofft sehnsüchtig auf eine göttliche Fügung. Mátaios. Wie man im Geburtsort der Spiele sagt. Vergebens. Keine weiteren Heilsbringer*innen in Sicht. „Stets bemüht“, würde in einem Schulzeugnis stehen, wenn man die glücklosen Versuche der Verantwortlichen in Sachen Zukunftsplanung beurteilen müsste.
Die Folge sind genervte Athleten, frustrierte Trainer, Funktionäre in Abwehrhaltung. Die Stimmung ist gereizt, zu vieles liegt im Argen. Dabei ist die Leichtathletik nur eine Blaupause für den generell erbärmlichen Zustand im Spitzensport dieses Landes. Ausnahmen bestätigen die Regel. Es gibt sie noch, die Sommermärchen. Bei der WM in der Rhythmischen Sportgymnastik in Spanien überragte Darja Varfolomeev. Ein Wunder-Kind. Ein weiblicher Mozart mit Ball, Reifen, Keulen, Band. Die erst 16-jährige Schülerin vom TSV Schmiden schmiedet Triumphe im Akkord. WM-Gold in allen (!) fünf Entscheidungen.
Quintuple einer Hochbegabten. Die gebürtige Russin ist ein Versprechen im konzertierten Versagen, der personifizierte Fünfach-Wumms.
Ansonsten heißt es: Sportnation Deutschland, von der Großmacht zum Zwerg. Der Patient liegt ein Jahr vor Olympia in Paris am Tropf. Besserung ist nicht in Sicht. Schneller? Höher? Weiter? Das Motto galt vielleicht zu Zeiten von Turnvater Jahn. Heutztage ist Zuschauen angesagt, wenn es um Siegerehrungen geht. Abgehängt und auf Weltniveau meist chancenlos! Pleiten, Blech und Pannen. Die Gründe sind vielschichtig, sie liegen in der Politik, im Jugend- und Nachwuchssport, den Schulen, in der Gesellschaft. Sie sind aber auch in den verkrusteten Verbänden zu suchen. Der Fisch stinkt bekanntlich meistens von oben. Masse statt Klasse. So sieht’s aus. Mittlerweile muss ich auf Internetseiten auf der Suche nach deutschen Erfolgen so lange scrollen, dass ich unten angekommen vergessen habe, was ich eigentlich wollte. Zu viel Sarkasmus? Spaß beiseite. In jedem Fall sollten wir uns schon einmal darauf einstellen, dass die deutschen Athletinnen und Athleten wohl auch 2024 in Frankreich im Kampf um den olympischen Kotinos erneut unter „ferner liefen“ landen.
„Die deutsche Leichtathletik muss aufpassen, nicht unterzugehen“, legte etwa Weitsprung-Ikone Heike Drechsler den Finger schonungslos in die Wunde. Keine dystopische Prognose, sondern die nackte Wahrheit.
Deutschland – nur noch ein Scheinriese. Die einst gefürchtete und beneidete Sportnation hat abgewirtschaftet. Ein sich lange anbahnendes Debakel mit Ansage. Fußball, Schwimmen, Rudern, Boxen, Judo, Fechten, Gewichtheben, Eisschnelllauf. Einstige Medaillen-Fabriken arbeiten auf Sparflamme. Das desaströse Abschneiden der Leichtathleten in Budapest ist nur ein weiterer Mosaikstein in der sportartübergreifenden Dauer-Krise. Eine Frage des Systems. Eklatante Strukturprobleme, schlechte Förderkonzepte, in vielen Bereichen keine zielführende Talent-Sichtung. Ein Umdenken muss her, alles hinterfragt werden. Schnell. Nicht nur beim DLV. Wenn Enttäuschungen in Serie nicht zur Normalität werden sollen.
Foto: picture alliance / Chai von der Laage | CHAI
Ronald Toplak, geboren am 5. Februar 1965 in Berlin, ist seit über 30 Jahren im Sportjournalismus für verschiedene Hauptstadt-Medien tätig. 25 davon als Redakteur beim Berliner Kurier. Er schreibt – nach einer gesundheitlichen Auszeit – nun als freier Autor.