Alpen, Pyrenäen, Jura, Vogesen, Zentralmassiv. Jedes Jahr bin ich im Ausnahmezustand. Wegen einer schillernden Karawane. Der Tour de France. Ich kann stundenlang zuschauen, wenn sich die Superstars des Radsports durch Frankreich quälen. Über schier unmenschliche Anstiege. Rasende Abfahrten. Oder wenn sich die Protagonisten am Ende einer Sprint-Etappe duellieren. Highspeed-Hasardeure im Grenzbereich. Über allem schwebt immer der Doping-Verdacht. Ein Reizthema, nach den riesigen Skandalen rund um die Jahrtausendwende. Ich will diesbezüglich auch nichts schön reden. Aber kein Spritzensportler konnte bisher meine Faszination stoppen. Das Fahrrad. Die Tour. Und ich. Eine lange Geschichte.
„Oben ankommen, dieser überragende Moment, in dem es vorbei ist, das Blut in den Ohren rauscht, das Adrenalin durch den Körper jagt. Die Muskeln übersäuert, Höhenluft in der Lunge. Absteigen und durchatmen. Ich habe es geschafft. Die Endorphine tanzen. Was für ein Glücksmoment.“
So ähnlich fühlte ich. Dauergrinsen, wenn ich als personifiziertes Smiley den Gipfel erreichte. Nein, nicht L’Alpe d’Huez. Ich schreibe vom Eiskeller nahe des Spandauer Forstes. Die Berge dort sind nur kleine Hügel. Eher Hügelchen. Als Kinder und Teenager waren sie unser Zentralmassiv. So spannend, als ob wir den Mont Ventoux bezwungen hätten. Belohnung waren die Abfahrten. Im Rausch der Geschwindigkeit, bis die britische Militärpolizei den Spaß beendete. War im Schatten der Mauer eben nicht gerne gesehen.
Kaum etwas erinnert heute noch an die bewegte Geschichte der ehemaligen West-Berliner Exklave. Zu Mauerzeiten waren die drei Gehöfte dort umschlossen von DDR-Gebiet. Hinaus führte ein gerade mal vier Meter breiter und 800 Meter langer Korridor. Dementsprechend nervös agierten die uniformierten Bediensteten im Auftrag ihrer Majestät. Ganz in der Nähe war zudem die russische Garnison Dallgow stationiert. Kalter Krieg. Am kältesten Ort der Stadt. Ja, liebe Kinder, so war das vor der Wende. Andere Geschichte.
In jedem Fall hielt uns kein Verbot davon ab, dort in die Pedale zu treten. Auf dem Grenzweg fuhren wir unsere Rennen. Fasziniert vom Tour-Virus. Den ein gewisser Dietrich Thurau ausgelöst hatte. 15 Tage lang pedalierte der damals 22-Jährige 1977 in Gelb über die französischen Landstraßen, heimste fünf Etappensiege ein. Die ganze Nation schaute gebannt auf ihren neuen Helden aus Frankfurt am Main.
Ich weiß es noch wie heute. Ich verfolgte jede Etappe. Fieberte mit. Jubelte. Etwa im Balkonzimmer meiner Oma, die verwundert meinen sich auf Reisen befindlichen Eltern berichtete. Kannte sie mich doch eigentlich nur mit einem abgewetzten Lederball am Fuß.
Plötzlich aber wollten alle Didi sein. Ich auch. Zum Leidwesen meines Altforderen. Ein neues Fahrrad musste her. Genauer gesagt ein Bonanza-Rad. Mit langgeschwungenem Bananensattel, dem hohen gegabelten Lenker, nahm das orangene Vehikel mit Knüppel-Schaltung den Easy-Rider-Chopper-Spirit aus den USA auf. Damals der ganz heiße Scheiß. Ich fühlte mich als der coolste Junge im Falkenhagener Feld. Mein alter Herr dagegen war sauer. Denn das Teil kam als Bausatz. Inklusive Montage-Stress.
Die Strafe folgte schnell. Das Bike taugte nämlich überhaupt nicht für lange Strecken oder Routen, die bergauf führten. Was ich auf der Fahrt ins Zeltlager zu spüren bekam. Ich hechelte mit meinem Blender-Velo der Gruppe hinterher. Mein Vater grinste ohne Mitleid: „Du wolltest es nicht anders. Da musst du jetzt durch.“ Tränen statt angeben. Bitter. Aber eine heilsame Lehre. Letztlich bekam ich wieder ein neues Gefährt. Vater klagte: „Ich habe mein Fahrrad schon mein ganzes Leben. Und du?“ Er fuhr seit den 50er-Jahren einen NSU-Drahtesel. 28er-Stahlrahmen. Unkaputtbar. Dafür werden heutzutage Rekordpreise erzielt. Aber er hätte sein Stahlross niemals verkauft. Es war ihm heilig, wurde gehegt und gepflegt, später nur im Fahrradladen von Wasserball-Legende Hagen Stamm den verkehrstechnischen Ansprüchen angepasst. Ich schämte mich jedenfalls, als ich auf Fahrrad Nummer 3 stieg. Ein trendiges Herkules.
Das Fahrrad und ich. Eine schwierige Geschichte. Erst Dreirad, bis es in der Mitte zerbrach. Dann Kinderbike mit Stützrädern. Da war ich ungefähr 5. Eines Tages ging mein Vater mit mir auf den Parkplatz vor dem Haus. Ich sollte lernen, ohne Hilfzusätze zu fahren. Es dauerte Stunden. Ich bewundere noch heute die Geduld meines Erzeugers. Als er schon verzweifelt aufgeben wollte, klappte es plötzlich doch. Ein Wunder! Fortan ging nichts mehr ohne Drahtesel. Mal abgesehen von der Tret-Harley-Episode. Schulweg. Freundin. Kino. Reisen. Etwa durch die Niederlande. Der Drahtesel war immer dabei. Sonne. Regen. Schnee. Das Wetter spielte nur marginal eine Rolle. Geradelt wurde immer!
Ich schweife ab. Zurück zur Tour. Regelmäßig schwangen sich mein Vater und ich gemeinsam auf den Sattel. So zum Beispiel, als die Frankreich-Schleife in West-Berlin gastierte. Anlässlich der 750-Jahrfreier 1987. Wir machten uns auf nach Kladow. Selbst die Grenzschützer von der anderen Seite waren mit Leitern über die Mauer geklettert, um live Zeuge des Spektakels zu werden.
Wir richteten uns am Ritterfelddamm ein. Stullen und Getränke im Gepäck. Zweite Etappe. Mannschaftszeitfahren war angesagt. Alle warteten. Und warteten. Und warteten. Tausende standen am Straßenrand. Plötzlich, um 15 Uhr 07, kaum einer hatte sie nahen sehen, preschte der Rad-Zirkus mit einem Affenzahn heran. Sie pfiffen um die Kurve und waren schon wieder weg, ehe sich alle Hälse hatten recken können. Gemein, sie kamen 17 Minuten eher als im Programm stand. Was blieb? Ich würde es Sekundenglück nennen. Ein Windzug für die Ewigkeit. Denn ich habe ihn gesehen. Dietrich Thurau. Rede ich mir zumindest ein. Auf den gefühlt 100000 Fotos, die ich gemacht habe, ist zugegeben kaum etwas zu erkennen. Vermischte Farbsegmente. Zu blöd. Falsche Verschlusszeit. Die Bilder könnten sicher in jedem Kunstmuseum ausgestellt werden. Als Zeitdokument taugen sie derweil nur wenig.
Egal, seitdem wurde meine Flotte nur noch um ein Fahrrad erweitert. Inzwischen selbst bezahlt. Ein teures Mountainbike von Peugeot. Alu-Terminator. So der furchteinflößende Name. Aber derzeit unpassend. Die Leidenschaft als aktiver Pedalritter ist der Faulheit gewichen. Das Velodrom heißt Keller. Dort staubt der Draht-Arnie vor sich hin.
Am Bildschirm bin ich aber nach wie vor ein Tour-Junkie. Die Frankreich-Schleife läuft im TV und auf allen mir zur Verfügung stehenden mobilen Endgeräten. Immer wieder stelle ich mir dabei die Frage? Worin, verdammt nochmal, liegt eigentlich der Reiz, Menschen wochenlang beim Radfahren zuzusehen? Dämlich, oder?
Über Stunden passiert gar nichts. Oder wenig. Aber! Man kann wunderbar nebenbei aufräumen oder sauber machen, auch mal eine Viertelstunde weggehen und zurückkommen, einen Urlaub planen, bevor ein Favorit zu einer monumentalen Attacke reitet. Während ein Fahrer sich vom Begleitfahrzeug Trinkflaschen für die Teamkollegen ins Trikot stopft, googelt man mal eben die Öffnungszeiten des Schwimmbads oder tauscht mit der Nachbarin, die gerade geklingelt hat, den neuesten Tratsch aus. Trotzdem hat man nichts verpasst.
Man leidet mit, wenn sich die Fahrer kilometerweit über schier unmenschliche Steigungen quälen. Acht bis 16 Prozent? Völlig normal. Man spürt förmlich den Muskelkater der Protagonisten. Ohne selbst Schmerzen zu haben. Dazu kann man träumen, wenn Land, Leute, Kultur und Kulinarik erklärt werden. Wenn über Ziegenkäse bei Rocamadour erzählt wird, Bilder von Wäldern, Äckern, Burgen und Schlössern, Meer und Bergen gezeigt werden. Wenn die Reporter begeistert von einem Museum für mechanische Musik schwärmen, das eine Sammlung von mehr als 900 Austellungsstücken umfasst. Zudem – ganz wichtig – ein Karussell der Holzpferde. Informationen, so wunderbar nutzlos. Und doch will ich sie nicht missen. Für mich ein Höhepunkt der Übertragungen.
Die Regie liefert die immergleiche Bildrotation von den Motorrädern, aus den Helikoptern, dazu Eindrücke vom Streckenrand. Die Tour am Bildschirm zu verfolgen, ist eine herrlich sinnlose Sommerbeschäftigung. So entschleunigend. Fast meditativ. Zuschauen, wie andere beeindruckende Höchstleistungen bringen, wie aktuell Jonas Vingegaard und Tadej Pogacar, die Ausnahme-Könner im Peloton. Giganten. Außerirdische. Ein episches Duell. Entspannt am Wohnzimmertisch. Das macht mich glücklich. Frei nach Helene Fischer: Atemlos! Auf der Couch. Schön!
Um am Ende bei Ihnen aber nicht den Eindruck eines behäbigen Stubenhockers zu hinterlassen: Ja, ich werde meinen im Keller in einem Holzverschlag eingemotteten Schwarzenegger auf Rädern entstauben. Versprochen! Es wird endlich Zeit, wieder selbst in die Pedalen zu treten. Erstmal nur eine Etappe zum Aufwärmen. Der Prolog führt zum Supermarkt um die Ecke. Dann sehen wir weiter. Vielleicht geht es in den Eiskeller. Mini-Tour am Stadtrand. In den Spandauer Alpen. Inzwischen als alter Mann. Schauen wir mal. In diesem Sinne: Allez! Sport frei!
Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Daniel Cole
Ronald Toplak, geboren am 5. Februar 1965 in Berlin, ist seit über 30 Jahren im Sportjournalismus für verschiedene Hauptstadt-Medien tätig. 25 davon als Redakteur beim Berliner Kurier. Er schreibt – nach einer gesundheitlichen Auszeit – nun als freier Autor.