Boris Becker muss in den Knast. Krass. So einfach ist das. Für mich nicht. Häme ist unangebracht. Der Tennis-Giant ist kein Einzelfall. Immer wieder fallen Sportstars nach einer glanzvollen Karriere in ein tiefes Loch. Doping, Alkoholexzesse, Insolvenzen, Scheidungen, Gerichtsurteile. Die ganze Palette an Totalversagen. Sie stehen im Rampenlicht, verdienen Millionen, werden gefeiert. Doch fällt all das weg, stürzen die einstigen Heroen ins Verderben. Überfordert mit sich selbst. Sie scheitern am normalen Leben.
Die ehemalige Nummer 1 der Tennis-Welt ist ein Paradebeispiel für Giganten, die mit Ruhm und Verehrung nicht zurechtkommen. Die den Halt verlieren, sobald das Scheinwerferlicht nicht mehr auf sie gerichtet ist. Kultfiguren, die zum Teil viel zu früh hochgejubelt, dann ebenso schnell fallengelassen werden. Oder auf scheinheilige Schulterklopfer reinfallen.
Jan Ullrich (Rad), Jennifer Capriati (Tennis), Mike Tyson (Boxen), Dennis Rodman (Basketball), O.J. Simpson (Football), Matti Nykänen (Skispringen), Tiger Woods (Golf), Diego Maradona oder Ex-Nationaltorwart Eike Immel (Fußball) sind nur einige Beispiele. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Pleite. Dschungelcamp. Oder eben Gefängnis, der schlimmste Höllenschlund. Uli Hoeneß, Ex-Boss von Bayern München, weiß ein Lied davon zu singen.
Der 7. Juli 1985 wird mir ewig in Erinnerung bleiben. Ich war damals 20 Jahre alt. Die ganze Familie saß gebannt vor dem Fernseher. Ein unbekannter Teenager namens Boris Becker stand gegen einen gewissen Kevin Curren im Finale von Wimbledon. Als sich Boris um 17.26 Uhr zum letzten Aufschlag vorbereitete, unterbrach mein 80-jähriger Onkel energisch alle Gespräche. Ruhe, donnerte es durch das Wohnzimmer. So, als ob wir Boris in seiner Konzentration stören würden. Totenstille, die mit einem gigantischen Jubelschrei endete, als Boris den Matchball verwandelte. Gemeinsam mit dem 17 Jahre alten rothaarigen Jungen aus Leimen rissen wir die Arme hoch. Game, set and match! Mit den Kumpels ging es nach einer Telefonkonferenz, Handys gab es noch nicht, zur Spontan-Party.
Ja, mich hatte der Tennis-Virus gepackt. Ja, Boris wurde mein Idol. Boris hatte eine Initialzündung für den gesamten deutschen Sport ausgelöst, die Nation in der Sehnsucht nach Helden geeint. Wenn Becker aufbrach, Bösewichter wie John McEnroe oder Ivan Lendl in Übersee zu bekämpfen, wurde die Nacht zum Tage gemacht, Boris zu einem Teil von uns. Allerdings endeten meine ambitionierten Versuche, gelbe Filzkugeln mittels eines Schlägers über das Netz zu spielen, kläglich. Später, als Reporter, lernte ich Becker persönlich kennen. Als Mann, der mich mit seinem Charisma in den Bann zog.
29. April, 2022. Ich saß ähnlich gespannt vor dem TV, wie vor 37 Jahren. 16.45 Uhr, wieder London, wieder Matchball. Wieder einer, der Beckers Leben dramatisch verändern sollte. Das niederschmetternde Urteil: 2 Jahre, 6 Monate. Bei guter Führung könnte er die Hälfte auf Bewährung absitzen. In der Stadt seiner größten Triumphe wurde der dreimalige Wimbledon-Champion im gepanzerten Transporter ins Gefängnis verbracht. Was für ein Antonym.
Er wird die Strafe im Wandsworth Prison absitzen. Die Mitte des 19. Jahrhunderts eröffnete Einrichtung ist die zweitgrößte Strafanstalt Großbritanniens und bietet Platz für rund 1.500 Häftlinge, die in sechseinhalb Quadratmeter kleinen Zellen untergebracht werden. Zu zweit! Dreckige Räume, Plastikmatratzen und sitzlose Toiletten. Ratten. Mäuse. Sonstiges Ungeziefer. Drogen. Gewalt. Horror! Ein Albtraum.
Zu jung. Zu früh berühmt. In Sachen Finanzen überfordert. Falsche Berater. All dies führte Verteidiger Jonathan Laidlaw entschuldigend an. Mag ja stimmen. Doch Unwissenheit schützt vor Strafe nicht.
Ich kann mich ein bisschen einfühlen. Sicher, ich habe keine Millionen verdient. Aber auch ich bin unfähig, mit Geld umzugehen. Ohne unsere Sekretärinnen hätte ich zum Beispiel wohl nie eine Spese abgerechnet. Pflegefall mein Spitzname. „Dich kriegen wir nie mehr groß“, erklang es in Dauerschleife aus dem Büro.
Wenn mein Schwager nicht wäre, der grummelnd meine Kontoführung übernommen hat, würde ich die Welt vielleicht auch schon hinter schwedischen Gardinen sehen. Im kleineren Maße bin ich also ähnlich drauf. Nur bei Scheidungen kann ich nicht mithalten. Und in einer Besenkammer wurde ich auch noch nicht beraubt.
Niemandem war zum Lachen zumute im Gerichtssaal Nummer 3 des Strafgerichts am Südufer der Themse. Auch Richterin Deborah Taylor (62) nicht. Haft wegen Geldwäsche, Betrugs und Hinterziehung in der Insolvenz. Becker kann zwar in Berufung gehen, der allerdings kaum Chancen eingeräumt werden.
Es tut weh, einen Helden der Jugend am Boden zu sehen. Er hat alles verloren. Seinen Ruf, vor allem seine Freiheit. Becker ist sicher kein schlechter Mensch, zeigt soziales Engagement. Aber er hat nie gelernt, erwachsen zu sein. Kindliche Naivität. Fatal, wie er mit nun 54 Jahren zu spüren bekommt. Gnadenlos. Ein Gericht ist die Bühne der Gerechtigkeit. Lebensweg oder Name stehen dabei nicht im Mittelpunkt, sondern Fakten. Bitter für Becker. Sein härtestes Match hat er verloren. Nicht auf dem Center-, sondern im Gerichts-Court. Das dramatische Ende eines Märchens. Ein letztes Ass blieb aus. Krass. Echt krass.
Bild: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Frank Augstein
Ronald Toplak, geboren am 5. Februar 1965 in Berlin, ist seit über 30 Jahren im Sportjournalismus für verschiedene Hauptstadt-Medien tätig. 25 davon als Redakteur beim Berliner Kurier. Er schreibt – nach einer gesundheitlichen Auszeit – nun als freier Autor.